Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Mann?«
»Was?«
»Hätte nicht auch eine Frau die Schläge ausführen können? Warum unbedingt ein Mann?«
»Weil die damalige Augenzeugin, Deborah Cooper, eindeutig einen Mann erkannt hatte. So, hiermit ist diese Unterhaltung beendet, Schriftsteller. Sie töten mir den letzten Nerv.«
»Aber was ist mit Ihnen? Was halten Sie von dieser Sache?«
Er zog ein Familienfoto aus seinem Geldbeutel.
»Ich habe zwei Töchter, Schriftsteller. Sie sind vierzehn und siebzehn. Was der alte Kellergan durchgemacht hat, würde ich nicht ertragen. Ich suche nach der Wahrheit. Und ich will Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist nicht die Summe aus einzelnen Fakten, sie ist eine viel komplexere Angelegenheit. Deshalb werde ich die Ermittlungen fortsetzen. Sollte ich einen Beweis für Queberts Unschuld finden, kommt er frei, glauben Sie mir. Aber wenn er schuldig ist, werde ich nicht zulassen, dass Roth den Geschworenen einen seiner Taschenspielertricks auftischt, die er so gut wie kein anderer beherrscht, um Verbrecher rauszuboxen. Denn das ist auch keine Gerechtigkeit.«
Gahalowood sah zwar wie ein angriffslustiger Bison aus, aber seine Einstellung gefiel mir.
»Eigentlich sind Sie ein anständiger Kerl, Sergeant. Was halten Sie davon: Ich spendiere Ihnen ein paar Donuts, und wir plaudern noch ein bisschen?«
»Ich will keine Donuts, ich will, dass Sie verschwinden. Ich habe zu arbeiten.«
»Aber Sie müssen mir erklären, wie man ermittelt. Ich habe keine Ahnung, wie das geht. Was muss ich tun?«
»Auf Wiedersehen, Schriftsteller. Für den Rest der Woche habe ich genug von Ihnen. Vielleicht sogar für den Rest meines Lebens.«
Ich war enttäuscht, dass ich nicht ernst genommen wurde, insistierte aber nicht. Zum Abschied hielt ich ihm die Hand hin. Er zerquetschte mir mit seiner kräftigen Pranke fast die Knöchel, dann ging ich. Doch draußen auf dem Parkplatz hörte ich, wie er mir hinterherrief: »He, Schriftsteller!« Ich drehte mich um und sah, wie er mit seiner massigen Gestalt auf mich zutrottete.
»Schriftsteller«, sagte er atemlos, als er mich erreicht hatte. »Ein guter Polizist interessiert sich nicht für den Täter …, sondern für das Opfer. Sie müssen sich mit dem Opfer befassen. Sie müssen das Pferd vom Kopf her aufzäumen, also vor dem Mord anfangen. Nicht vom Schwanz her. Wenn Sie sich auf den Mord versteifen, kommen Sie auf Abwege. Sie müssen sich fragen, was für ein Mensch das Opfer war … Fragen Sie sich, wer Nola Kellergan war …«
»Und was ist mit Deborah Cooper?«
»Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Es dreht sich alles um Nola. Deborah Cooper war nur ein Kollateralopfer. Finden Sie heraus, wer Nola war, dann finden Sie auch ihren Mörder und im Zuge dessen den von der alten Cooper.«
Wer war Nola Kellergan? Diese Frage wollte ich Harry im Staatsgefängnis stellen. Er sah schlecht aus und schien sehr um den Inhalt seines Garderobenschranks im Fitnessclub besorgt.
»Haben Sie alles gefunden?«, fragte er mich schon, noch bevor er mich begrüßte.
»Ja.«
»Und haben Sie alles verbrannt?«
»Ja.«
»Auch das Manuskript?«
»Auch das Manuskript.«
»Warum haben Sie mir nicht ausrichten lassen, dass die Sache erledigt ist? Ich war halb tot vor Sorge! Wo haben Sie die letzten zwei Tage gesteckt?«
»Ich habe auf eigene Faust ermittelt. Harry, warum lag diese Schachtel im Garderobenschrank eines Fitnessstudios?«
»Ich weiß, das wird Ihnen seltsam vorkommen … Nach Ihrem Besuch im März in Goose Cove hatte ich Angst, jemand anders könnte die Schachtel finden. Sie hätte jedem in die Hände fallen können: einem dreisten Gast, der Putzfrau … Also habe ich beschlossen, dass es ratsam wäre, meine Erinnerungsstücke woanders zu verstecken.«
»Sie haben sie versteckt? Aber das macht Sie zum Täter! Und dieses Manuskript … War es das von Der Ursprung des Übels ?«
»Ja, die allererste Fassung.«
»Ich habe den Text wiedererkannt. Dabei stand auf dem Deckblatt nicht einmal ein Titel …«
»Der Titel ist mir erst im Nachhinein eingefallen.«
»Sie meinen, nachdem Nola verschwunden war?«
»Ja. Aber reden wir nicht über das Manuskript, Marcus. Es ist verflucht, es hat mir nur Unglück gebracht. Der Beweis: Nola ist tot, und ich sitze im Gefängnis.«
Wir starrten uns einen Augenblick an. Dann stellte ich eine Plastiktüte auf den Tisch, in der sich der Inhalt meines Pakets befand.
»Was ist das?«, wollte Harry wissen.
Statt einer Antwort zog ich einen Minidisc-Rekorder
Weitere Kostenlose Bücher