Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
um Hilfe gerufen hatte, hätte er sie nicht hören können. Laut Pinkas machte sich der Vater heute noch Vorwürfe, weil er die Musik so laut aufgedreht hatte. Er hatte das Haus der Familie in der Terrace Avenue nie aufgegeben, sondern sich darin verkrochen und spielte wie ein Besessener immer wieder dieselbe Platte, als wollte er sich bestrafen. Von den Kellergans war nur noch er übrig. Louisa, die Mutter, war schon vor Langem gestorben. An dem Abend, an dem Nola ausgegraben worden war, hatten offenbar Journalisten den alten David Kellergan zu Hause heimgesucht. »Das war erschütternd«, berichtete Pinkas. »Er sagte so etwas Ähnliches wie: Sie ist also tot … Und ich habe die ganze Zeit über gespart, damit sie studieren kann. Und stell dir vor: Am nächsten Tag standen fünf falsche Nolas bei ihm auf der Matte. Wegen der Kohle. Der Arme war vollkommen verstört. Wir leben wirklich in einer verrückten Zeit. Die Menschheit hat nur Dreck im Kopf, Marcus. Das ist meine Meinung.«
»Hat ihr Vater das oft gemacht, ich meine, die Musik voll aufgedreht?«, fragte ich.
»Ja, ständig. Und was Harry angeht … Ich bin gestern in der Stadt der alten Quinn über den Weg gelaufen …«
»Der alten Quinn?«
»Ja, ihr gehörte früher das Clark’s. Sie erzählt jedem, der es hören will, sie hätte schon immer gewusst, dass Harry ein Auge auf Nola geworfen hatte … Sie behauptet, sie hätte damals einen unwiderlegbaren Beweis dafür gehabt.«
»Was für einen Beweis?«, wollte ich wissen.
»Keine Ahnung. Hast du was von Harry gehört?«
»Ich gehe ihn morgen besuchen.«
»Grüße ihn von mir.«
»Besuch ihn doch auch mal, wenn du willst … Er würde sich freuen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das will.«
Ich wusste, dass der fünfundsiebzigjährige Rentner Pinkas, ein ehemaliger Arbeiter in einer Textilfabrik in Concord, der nie studiert hatte und darunter litt, dass er seine Leidenschaft für Bücher außerhalb seiner ehrenamtlichen Tätigkeit in der Bücherei nicht ausleben konnte, Harry unendlich dankbar war, weil dieser ihm gestattet hatte, unentgeltlich seine Literaturvorlesungen am Burrows College zu besuchen. Deshalb hatte ich ihn immer für einen von Harrys treusten Unterstützern gehalten, doch nun ging sogar er auf Distanz zu ihm.
»Weißt du«, sagte er, »Nola war ein ganz besonderes Mädchen, sanftmütig und nett zu jedem. Jeder hier hatte Nola gern! Sie war wie unser aller Tochter. Wie konnte Harry nur … Ich meine, auch wenn er sie nicht getötet hat, hat er dieses Buch geschrieben! Scheiße, sie war erst fünfzehn! Sie war noch ein Kind! Er hat sie so sehr geliebt, dass er für sie ein Buch geschrieben hat? Einen Liebesroman? Ich war mit meiner Frau fünfzig Jahre lang verheiratet und hatte nie das Bedürfnis, ein Buch für sie zu schreiben.«
»Aber dieses Buch ist ein Meisterwerk.«
»Dieses Buch ist Teufelswerk! Es ist pervers. Übrigens habe ich die letzten Exemplare, die wir hier hatten, weggeworfen. Die Leute sind zu aufgebracht.«
Ich seufzte, antwortete aber nicht darauf. Ich wollte mich nicht mit ihm streiten. Stattdessen fragte ich einfach nur: »Erne, kann ich ein Paket in die Bücherei schicken lassen?«
»Ein Paket. Aber sicher. Warum?«
»Ich habe meine Putzfrau gebeten, mir per FedEx einen wichtigen Gegenstand aus meiner Wohnung zu schicken. Aber mir ist es lieber, das Paket wird hierher geliefert. Ich bin nicht immer in Goose Cove, und der Briefkasten quillt über vor gehässiger Post, die ich schon gar nicht mehr raushole. Hier bin ich wenigstens sicher, dass es ankommt.«
Der Briefkasten von Goose Cove lieferte ein anschauliches Bild davon, wie es um Harrys Ruf stand: Ganz Amerika, das ihn eben noch bewundert hatte, buhte ihn aus und überhäufte ihn mit Schmähbriefen. Der größte Skandal in der Geschichte des Verlagswesens war im Gange: Der Ursprung des Übels war aus sämtlichen Regalen der Buchhandlungen und von den Lehrplänen der Schulen verschwunden, der Boston Globe hatte die Zusammenarbeit mit Harry einseitig aufgekündigt, und der Verwaltungsrat des Burrows College hatte beschlossen, ihn mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben zu entbinden. Die Zeitungen taten sich keinen Zwang mehr an, ihn einen Triebtäter zu nennen. Er war Diskussions- und Gesprächsthema Nummer eins. Roy Barnaski, der eine geschäftliche Chance witterte, die er unter keinen Umständen auszulassen gedachte, wollte unbedingt ein Buch über den Fall herausbringen. Und da Douglas es
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