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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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sinken, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Zuerst werde ich verhaftet und sage mir, das ist ein Irrtum, der sich in ein paar Stunden aufklären wird, aber plötzlich werde ich hier bis zum Prozess eingesperrt, der Gott weiß wann stattfindet, und bekomme womöglich die Todesstrafe. Die Todesstrafe, Marcus! Ich muss immerzu daran denken. Ich habe Angst.«
    Es war eindeutig, dass Harry hier allmählich vor die Hunde ging. Er saß seit kaum mehr als einer Woche im Gefängnis, aber es war offensichtlich, dass er das keinen Monat durchhalten würde. »Wir holen Sie hier raus, Harry. Wir werden die Wahrheit ans Licht bringen. Roth ist ein sehr guter Anwalt, Sie müssen Vertrauen zu ihm haben. Wollen Sie nicht weitererzählen? Erzählen Sie mir von Nola, fahren Sie mit Ihrem Bericht fort. Was ist danach passiert?«
    »Wonach?«
    »Nach der Szene am Strand. Als Nola an dem Samstag nach der Schulaufführung zu Ihnen gekommen ist und gesagt hat, dass Sie sich nicht einsam fühlen sollen.«
    Während ich dies sagte, brachte ich mein Aufnahmegerät auf dem Tisch in Stellung und schaltete es ein. Harry zwang sich zu einem Lächeln.
    »Sie sind in Ordnung, Marcus, denn das ist es, was zählt: Nola, die an den Strand kommt und zu mir sagt, dass ich mich nicht einsam fühlen soll, dass sie für mich da ist … Eigentlich war ich immer ein ziemlicher Einzelgänger gewesen, aber plötzlich war alles anders. Durch Nola fühlte ich mich als Teil eines Ganzen, einer Einheit, die wir gemeinsam bildeten. Wenn sie nicht bei mir war, herrschte in mir ein Gefühl der Leere und des Mangels, wie ich es vorher nicht gekannt hatte. Es war, als würde sich meine Welt, seit sie in mein Leben getreten war, ohne sie nicht mehr richtig drehen. Ich wusste, dass mein Glück von ihr abhing, aber mir war auch klar, dass die Geschichte zwischen ihr und mir furchtbar kompliziert werden würde. Übrigens war meine erste Reaktion, meine Gefühle zu unterdrücken. Schließlich war die Sache aussichtslos. An jenem Samstag blieben wir noch eine Weile am Strand, bis ich zu ihr sagte, es sei spät, sie müsse nach Hause, bevor ihre Eltern sich Sorgen machten, und sie gehorchte. Sie ging über den Strand zurück, ich blickte ihr nach und hoffte, dass sie sich umdrehen würde, nur ein einziges Mal, um mir kurz zuzuwinken. N-O-L-A . Aber ich musste sie mir um jeden Preis aus dem Kopf schlagen … In der folgenden Woche versuchte ich, Jenny, der heutigen Chefin des Clark’s, näherzukommen, um Nola zu vergessen.«
    »Warten Sie … Soll das heißen, dass die Jenny, von der Sie mir erzählt haben, die Kellnerin aus dem Clark’s von 1975, Jenny Dawn, die Frau von Travis ist, der das Clark’s heute gehört?«
    »Genau die, nur dreißig Jahre älter. Damals war sie sehr hübsch. Das ist sie übrigens immer noch. Sie hätte in Hollywood als Schauspielerin ihr Glück versuchen können. Sie hat oft davon gesprochen, aus Aurora wegzugehen und in Kalifornien in Saus und Braus zu leben. Aber sie hat es nie getan. Sie ist hiergeblieben, hat von ihrer Mutter das Restaurant übernommen und wird am Ende ihr Leben lang Hamburger verkauft haben. Ihr Fehler. Man ist für sein Leben selbst verantwortlich, Marcus. Ich weiß, wovon ich rede …«
    »Warum sagen Sie das jetzt?«
    »Das ist nicht weiter wichtig … Aber ich schweife ab und verliere mich in Nebensächlichkeiten. Ich sprach gerade von Jenny. Die damals vierundzwanzigjährige Jenny war also eine bildschöne Frau: Schönheitskönigin an der Highschool, eine sinnliche Blondine, die jedem Mann den Kopf verdrehte. Alle standen damals auf Jenny. Ich verbrachte meine Tage im Clark’s in ihrer Gesellschaft. Ich hatte dort Kredit und ließ alles anschreiben. Ich achtete nicht weiter darauf, wie viel ich ausgab, obwohl ich beinahe sämtliche Ersparnisse für die Miete des Hauses verwendet hatte und ziemlich knapp bei Kasse war.«

    Mittwoch, 18. Juni 1975
    Seit Harry in Aurora wohnte, brauchte Jenny Quinn morgens eine geschlagene Stunde länger, um sich fertig zu machen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Noch nie zuvor hatte sie so etwas erlebt. Er war der Mann ihres Lebens, das wusste sie. Er war der, auf den sie immer gewartet hatte. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, malte sie sich ihre gemeinsame Zukunft aus: ihre triumphale Hochzeit, ihr Leben in New York. Goose Cove würde zu ihrem Sommerhaus werden, er könnte dort in Ruhe seine Manuskripte überarbeiten, und sie würde ihre Eltern besuchen. Er war der Mann, der

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