Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Verabredung hatte? Aber mit wem? Ein Gast setzte sich an die Theke und riss sie aus ihren Träumereien. »Guten Tag, Jenny.«
Es war Travis, ihr netter Schulkamerad von der Highschool, der Polizist geworden war.
»Hallo, Travis. Möchtest du einen Kaffee?«
»Gern.«
Er schloss kurz die Augen, um sich zu konzentrieren. Er musste ihr diesen Satz sagen. Sie stellte eine Tasse vor ihn hin und schenkte Kaffee ein. Der Augenblick war gekommen: Jetzt musste er es wagen. »Jenny … Ich wollte dir sagen …«
»Was?«
Sie heftete ihre großen hellen Augen fest auf seine und brachte ihn dadurch völlig aus der Fassung. Wie ging der Satz bloß weiter? Ach ja, das Kino …
»Das Kino«, sagte er.
»Was ist mit dem Kino?«
»Ich … Im Kino von Manchester gab es einen Raubüberfall.«
»Ach, wirklich? Ein Raubüberfall in einem Kino? Komische Geschichte.«
»Auf dem Postamt von Manchester, wollte ich sagen.«
Warum zum Teufel hatte er nur von diesem Raubüberfall angefangen? Das Kino! Es ging ums Kino!
»Auf dem Postamt oder im Kino?«, wollte Jenny wissen.
Das Kino. Das Kino. Das Kino. Rede über das Kino! Sein Herz explodierte fast. Er unternahm noch einen Anlauf: »Jenny … Ich wollte … Na ja, ich habe mir gesagt … Also, wenn du möchtest …«
In diesem Augenblick rief Tamara aus der Küche nach ihrer Tochter, und Jenny musste seinen Vortrag unterbrechen.
»Entschuldige, Travis, aber ich muss zu ihr. Mutter hat zurzeit miese Laune.«
Die junge Frau verschwand hinter der Schwingtür, ohne dem jungen Polizisten Zeit zu lassen, seinen Satz zu beenden. Mit einem Seufzer murmelte er: Wenn du freihast, könnten wir am Samstagabend doch vielleicht in Montburry ins Kino gehen. Dann legte er fünf Dollar für einen Kaffee zu fünfzig Cent, den er noch nicht einmal getrunken hatte, auf den Tresen und verließ niedergeschlagen das Clark’s.
»Wo wollten Sie an all den Tagen um sechzehn Uhr hin, Harry?«, fragte ich.
Er antwortete mir nicht gleich. Stattdessen blickte er aus dem nahen Fenster, und mir schien, dass er dabei versonnen lächelte. Schließlich sagte er: »Ich musste sie unbedingt sehen …«
»Nola, oder?«
»Ja. Wissen Sie, Jenny war toll, aber sie war eben nicht Nola. Mit Nola zusammen zu sein hieß, wirklich zu leben. Anders könnte ich es nicht umschreiben. Jede mit ihr verbrachte Sekunde war eine aus dem Vollen gelebte Sekunde. Und ich glaube, genau das ist Liebe. Ihr Lachen, Marcus, ihr Lachen höre ich seit dreiunddreißig Jahren jeden Tag in meinem Kopf. Ihr außergewöhnlicher Blick, ihre vor Leben sprühenden Augen, ich sehe sie immerzu vor mir … Genau wie ihre Gesten, ihre Art, sich das Haar zu richten oder sich auf die Lippen zu beißen. Ihre Stimme erklingt in mir, und manchmal ist es, als wäre sie da. Wenn ich in die Stadtmitte, zum Jachthafen oder zum Laden fahre, sehe ich sie vor mir, wie sie mit mir über das Leben und über Bücher plaudert. Im Juni 1975 war noch nicht einmal ein Monat vergangen, seit sie in mein Leben getreten war, und trotzdem hatte ich das Gefühl, sie wäre schon immer ein Teil davon gewesen. Wenn sie nicht da war, kam es mir so vor, als hätte nichts einen Sinn: Ein Tag ohne Nola war ein verlorener Tag. Mein Bedürfnis, sie zu sehen, war so stark, dass ich nicht bis Samstag warten konnte. Also habe ich damit angefangen, sie am Ausgang der Highschool abzupassen. Das hatte ich vor, wenn ich um sechzehn Uhr das Clark’s verlassen habe! Ich habe mich ins Auto gesetzt und bin zur Highschool von Aurora gefahren. Dort habe ich mich direkt vor dem Haupteingang auf den Lehrerparkplatz gestellt, mich im Wagen versteckt und darauf gewartet, dass sie herauskam. Sobald sie auftauchte, fühlte ich mich viel lebendiger, viel kraftvoller. Sie zu sehen reichte mir zu meinem Glück. Ich ließ sie nicht aus den Augen, bis sie in den Schulbus stieg, und blieb so lange dort stehen, bis der Bus verschwunden war. War ich damals verrückt, Marcus?«
»Nein, ich glaube nicht, Harry.«
»Ich weiß nur, dass Nola in mir lebte, und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Dann war wieder Samstag, und dieser Samstag war ein herrlicher Tag. Das schöne Wetter hatte die Leute an den Strand gelockt, das Clark’s war wie ausgestorben, und Nola und ich haben uns lange unterhalten. Sie hat gesagt, sie hätte viel über mich und mein Buch nachgedacht und das, an dem ich gerade schrieb, würde bestimmt ein großes Meisterwerk. Als ihre Schicht um achtzehn Uhr zu Ende war, habe ich angeboten,
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