Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Mädchen, aber viel zu blauäugig. »Wer hat dir denn diese Flausen in den Kopf gesetzt?«
»Ich weiß, dass Harry auf mich steht, Mom. Und ich glaube, dass ich in seinem Buch eine wichtige Rolle spiele. Ja, Mom, deine Tochter wird nicht ihr Leben lang Eier mit Speck und Kaffee servieren. Aus deiner Tochter wird mal was.«
»Was faselst du da?«
Jenny übertrieb ein wenig, damit ihre Mutter es auch wirklich kapierte. »Das mit Harry und mir … bald ist es offiziell«, verkündete sie triumphierend. Kokett machte sie kehrt und stolzierte wie eine First Lady zurück in den Speisesaal.
Tamara Quinn konnte sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen: Sollte es ihrer Tochter tatsächlich gelingen, sich Quebert zu schnappen, würde man im ganzen Land über das Clark’s reden. Wer weiß, die Hochzeit konnte doch vor Ort stattfinden, sie würde Harry die Idee schon schmackhaft machen. Das Viertel abgeriegelt, große weiße Zelte auf der Straße, handverlesene Gäste; die halbe New Yorker Hautevolee, Dutzende Journalisten, die über das Ereignis berichteten, und nicht enden wollendes Blitzlichtgewitter. Den Mann schickte der Himmel!
An diesem Tag verließ Harry das Clark’s um sechzehn Uhr überstürzt, als hätte er die Zeit vergessen. Er sprang in seinen vor dem Restaurant geparkten Wagen und fuhr schnell los. Er wollte nicht zu spät kommen, er wollte sie nicht verpassen. Kurz nachdem er weggefahren war, hielt ein Streifenwagen aus Aurora auf dem frei gewordenen Platz. Der Polizeibeamte Travis Dawn umklammerte nervös das Lenkrad und warf durchs Fenster unauffällig einen Blick ins Innere des Restaurants. Es herrschte noch zu viel Betrieb, deshalb wagte er sich nicht hinein. Er nutzte die Wartezeit, um den Satz einzustudieren, den er sich zurechtgelegt hatte. Ein einziger Satz nur, das würde er schon hinkriegen. Er durfte nur nicht so schüchtern sein. Ein läppischer Satz aus kaum mehr als zehn Wörtern. Er blickte in den Rückspiegel und sagte laut: Kuten Tag, Jenny, ich dachte, wir gönnten am Samstag vielleicht ins Gino kehen … Er fluchte: So ging das nicht! Ein einziger, harmloser Satz, und er brachte es nicht fertig, sich den richtig zu merken! Er faltete ein Papier auseinander und las, was er daraufgeschrieben hatte:
Guten Tag, Jenny,
wenn du freihast, könnten wir doch vielleicht am Samstagabend in Montburry ins Kino gehen.
Das war doch nicht so schwer. Er musste nur ins Clark’s gehen, sich mit einem Lächeln an die Theke setzen und einen Kaffee bestellen. Während sie dann seine Tasse füllte, musste er den Satz sagen. Er brachte seine Haare in Ordnung und tat dann so, als würde er ins Mikrofon seines Bordfunkgeräts sprechen, damit er beschäftigt wirkte, falls ihn jemand sah. Er wartete zehn Minuten. Vier Gäste verließen gleichzeitig das Clark’s. Jetzt war der Weg frei. Sein Herz pochte wie verrückt: Er spürte das Klopfen in der Brust, in den Händen, im Kopf, ja sogar die Fingerspitzen schienen bei jedem Herzschlag zu zucken. Das Stück Papier in der Faust, stieg Travis aus dem Wagen. Er liebte Jenny. Schon seit der Highschool. Sie war die wunderbarste Frau, die er je gesehen hatte. Ihretwegen war er in Aurora geblieben. Auf der Polizeiakademie war man wegen seiner besonderen Eignung auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihm geraten, nach Höherem als der Ortspolizei zu streben. Von der State Police, ja sogar von der Federal Police war die Rede gewesen! Ein Typ aus Washington hatte zu ihm gesagt: »Mein Junge, vergeude deine Zeit nicht in diesem gottverlassenen Kaff. Das FBI sucht Leute. Und das FBI , das ist doch was, oder?« Das FBI ! Man hatte ihm zum FBI geraten! Vielleicht hätte er sogar um Aufnahme beim hoch angesehenen Secret Service ersuchen können, der mit dem Schutz des Präsidenten und anderer hochrangiger Persönlichkeiten des Landes beauftragt war. Aber da war diese junge Frau, die in Aurora im Clark’s bediente, dieses Mädchen, in das er schon immer verliebt gewesen war, sodass er stets gehofft hatte, dass es eines Tages den Blick auf ihn richten würde: Jenny Quinn. Also hatte er darum gebeten, bei der Polizei in Aurora eingesetzt zu werden. Ohne Jenny hatte sein Leben keinen Sinn. Vor der Tür des Restaurants holte er tief Luft und trat ein.
Sie dachte an Harry, während sie mechanisch Tassen abtrocknete, die längst trocken waren. In letzter Zeit brach er immer schon gegen sechzehn Uhr auf. Sie fragte sich, wohin er wohl so regelmäßig ging. Ob er eine
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