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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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Tage nach ihrer Begegnung am Strand war sie ihm vor dem Laden über den Weg gelaufen, und sie waren zusammen die Hauptstraße zum Jachthafen hinuntergegangen.
    »Man erzählt sich, dass Sie nach Aurora gekommen sind, um ein Buch zu schreiben«, hatte sie gesagt.
    »Das stimmt.«
    Übermütig hatte sie ausgerufen: »Oh, Harry, wie aufregend! Sie sind der erste Schriftsteller, den ich kennenlerne! Ich möchte Ihnen so viele Fragen stellen …«
    »Zum Beispiel?«
    »Wie geht das mit dem Schreiben?«
    »Das kommt von ganz allein. Zuerst wirbeln einem alle möglichen Ideen im Kopf herum, irgendwann entstehen daraus Sätze, und die landen dann auf dem Papier.«
    »Es muss herrlich sein, Schriftsteller zu sein!«
    Er hatte sie angesehen und sich Hals über Kopf in sie verliebt.
    N-O-L-A . Sie hatte ihm erzählt, dass sie samstags im Clark’s arbeitete, deshalb war er am darauffolgenden Samstag in aller Frühe dorthin gegangen. Den ganzen Tag über hatte er sie nicht aus den Augen gelassen und jede einzelne ihrer Gesten bewundert. Doch dann hatte er sich in Erinnerung gerufen, dass sie erst fünfzehn war, und sich geschämt. Wenn jemand in diesem kleinen Städtchen mitbekam, was er für die kleine Kellnerin aus dem Clark’s empfand, würde er Scherereien bekommen. Vielleicht drohte ihm sogar Gefängnis. Um jeden Verdacht zu zerstreuen, ging er dazu über, täglich zum Mittagessen ins Clark’s zu kommen. Seit über einer Woche spielte er nun schon den Stammgast, erschien Tag für Tag mit gleichgültiger Miene und ließ sich nichts anmerken. Keiner durfte mitbekommen, dass sein Herz am Samstag höherschlug. An all den Tagen, an denen er in Goose Cove auf der Terrasse oder im Clark’s saß, konnte er nichts anderes als ihren Namen schreiben. N-O-L-A . Seite um Seite, auf der er sie beim Namen nannte, sie vor sich sah, sie beschrieb. Seiten, die er anschließend zerriss und in seinem eisernen Papierkorb verbrannte. Wenn jemand diese Zeilen fand, war er erledigt.
    Zur Mittagszeit, als im Clark’s gerade Hochbetrieb herrschte, ließ sich Nola von Mindy ablösen. Das war ungewöhnlich. Sie kam zu Harry an den Tisch, um sich höflich von ihm zu verabschieden. Dabei wurde sie von einem Mann begleitet, bei dem es sich Harrys Einschätzung nach um ihren Vater, Reverend David Kellergan, handelte. Er war am Spätvormittag gekommen und hatte an der Theke einen Granatapfel-Milkshake getrunken.
    »Auf Wiedersehen, Mr Quebert«, sagte Nola. »Ich mache für heute Schluss. Ich wollte Ihnen nur kurz meinen Vater, Reverend Kellergan, vorstellen.«
    Harry stand auf, und die beiden Männer schüttelten sich herzlich die Hand.
    »Sie sind also der berühmte Schriftsteller«, sagte der Reverend mit einem Lächeln.
    »Und Sie müssen der Reverend sein, über den man sich hier so viel erzählt«, entgegnete Harry.
    David Kellergan wirkte amüsiert. »Geben Sie nichts auf das Gerede der Leute. Die übertreiben immer.«
    Nola zog einen Handzettel aus ihrer Tasche und reichte ihn Harry.
    »An unserer Highschool findet heute zum Schuljahresende eine Aufführung statt, Mr Quebert. Deshalb muss ich früher weg. Sie beginnt um siebzehn Uhr. Kommen Sie?«
    »Nola«, rügte ihr Vater sie milde, »lass doch den armen Mr Quebert in Frieden. Was soll er denn da?«
    »Es wird bestimmt sehr schön!«, verteidigte sie sich begeistert.
    Harry dankte Nola für die Einladung und sagte ihr Auf Wiedersehen. Durch die Panoramascheibe sah er, wie sie um die Straßenecke bog und verschwand, dann kehrte er nach Goose Cove zurück, um sich erneut in seine Entwürfe zu vertiefen.
    Vierzehn Uhr. N-O-L-A . Seit zwei Stunden saß er nun schon in seinem Arbeitszimmer und hatte nichts geschrieben. Stattdessen hatte er ständig auf die Uhr geschielt. Er durfte nicht zu ihrer Schulaufführung gehen. Das war verboten. Aber weder Wände noch Gefängnismauern konnten ihn davon abhalten, mit ihr zusammen sein zu wollen. Sein Körper war in Goose Cove eingesperrt, aber in Gedanken lief er mit Nola am Strand entlang. Es wurde fünfzehn Uhr. Dann sechzehn Uhr. Er klammerte sich an seinen Stift, um nicht aus dem Arbeitszimmer zu rennen. Sie war erst fünfzehn. Diese Liebe war verboten. N-O-L-A .
    Um sechzehn Uhr fünfzig betrat Harry in einem eleganten dunklen Anzug die Aula der Highschool. Der Saal war brechend voll: Die ganze Stadt war da. Als er zwischen den Stuhlreihen nach vorn ging, bildete er sich ein, dass alle über ihn tuschelten, sobald er an ihnen vorbeikam, und die Eltern

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