Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
der Schüler ihm mit Blicken zu verstehen gaben: Wir wissen, warum du hier bist . Er fühlte sich schrecklich unwohl in seiner Haut, entschied sich aufs Geratewohl für eine Reihe und machte sich auf seinem Sitzplatz so klein wie möglich, um nicht aufzufallen.
Das Spektakel begann. Er hörte einen grauenhaften Chor, gefolgt von einem schwunglosen Trompetenensemble, Primaballerinen, die alles andere als prima waren, einem unbeseelten Klavierstück für vier Hände und Sängern ohne Stimme. Anschließend wurde im ganzen Saal das Licht gelöscht, und ein einzelner Scheinwerfer warf seinen hellen Lichtkreis auf die Bühne. Da erschien sie in einem blauen Paillettenkleid, das sie wie tausend Sterne funkeln ließ. N-O-L-A . Gebannte Stille. Sie setzte sich auf einen Barhocker, schob ihre Haarspange zurecht und richtete den Mikrofonständer aus, den man vor sie hingestellt hatte. Dann schenkte sie den Zuschauern ein strahlendes Lächeln, nahm eine Gitarre zur Hand und stimmte eine eigene Interpretation des Songs Can’t Help Falling in Love with You an.
Das Publikum war hin und weg, und in diesem Augenblick begriff Harry, dass ihn das Schicksal, als es ihn nach Aurora schickte, auf Nola Kellergan angesetzt hatte, das außergewöhnlichste Geschöpf, dem er je begegnet war und jemals begegnen würde. Vielleicht war es gar nicht seine Bestimmung, Schriftsteller zu werden, sondern von dieser einzigartigen jungen Frau geliebt zu werden. Konnte es ein schöneres Los geben? Er war so überwältigt, dass er am Ende der Vorführung mitten im Applaus aufsprang und fluchtartig den Saal verließ. Überstürzt kehrte er nach Goose Cove zurück, setzte sich auf die Terrasse und schrieb, bis zum Rand gefüllte Whiskygläser in sich hineinschüttend, wie ein Besessener N-O-L-A , N-O-L-A , N-O-L-A . Er wusste nicht, was er tun sollte. Aurora verlassen? Aber wohin sollte er gehen? Zurück ins lärmende New York? Er hatte sich verpflichtet, das Haus für vier Monate zu mieten, und bereits die Hälfte bezahlt. Er war hierhergekommen, um ein Buch zu schreiben. Er musste sich daran halten. Er musste sich zusammenreißen und sich wie ein Schriftsteller benehmen.
Als das Handgelenk vom Schreiben wehtat und ihm vom Whisky schwindlig war, ging er an den Strand hinunter, ließ sich unglücklich gegen einen großen Fels sinken und blickte starr auf den Horizont. Plötzlich hörte er hinter sich Schritte.
»Harry? Harry, was ist mit Ihnen?«
Es war Nola in ihrem blauen Kleid. Sie eilte zu ihm und kniete sich in den Sand. »Harry, um Himmels willen! Sind Sie krank?«
»Was … Was machst du denn hier?«, fragte er statt einer Antwort.
»Ich habe nach der Aufführung auf Sie gewartet. Ich habe Sie mitten im Applaus gehen sehen und nicht mehr gefunden. Ich habe mir Sorgen gemacht … Warum sind Sie so schnell gegangen?«
»Du solltest nicht hierbleiben, Nola.«
»Warum?«
»Weil ich betrunken bin. Ich habe ein bisschen zu tief ins Glas geschaut. Das bereue ich jetzt. Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, wäre ich nüchtern geblieben.«
»Warum haben Sie getrunken, Harry? Sie sehen so traurig aus …«
»Ich bin einsam. Ich bin so schrecklich einsam.«
Sie drängte sich an ihn und sah ihn aus ihren strahlenden Augen eindringlich an. »Aber Harry, um Sie herum sind doch so viele Menschen!«
»Die Einsamkeit bringt mich um, Nola.«
»Dann leiste ich Ihnen eben Gesellschaft.«
»Das solltest du nicht tun …«
»Ich möchte aber, es sei denn, ich störe Sie.«
»Du störst mich nie.«
»Harry, warum sind Schriftsteller so einsam? Hemingway, Melville … Sie waren die einsamsten Menschen der Welt!«
»Ich weiß nicht, ob Schriftsteller einsame Menschen werden oder ob es die Einsamkeit ist, die sie zum Schreiben treibt …«
»Und warum begehen alle Schriftsteller Selbstmord?«
»Nicht alle begehen Selbstmord, nur die, deren Bücher keiner liest.«
»Ich habe Ihr Buch gelesen. Ich habe es mir in der Gemeindebücherei ausgeliehen und in einer einzigen Nacht durchgelesen! Ich war begeistert! Sie sind ein ganz großer Schriftsteller! Harry … heute Nachmittag habe ich für Sie gesungen. Ich habe dieses Lied für Sie gesungen!«
Er sah sie an und lächelte. Sie fuhr mit der Hand unendlich zärtlich durch sein Haar und sagte noch einmal: »Sie sind ein ganz großer Schriftsteller, Harry. Sie dürfen sich nicht einsam fühlen. Ich bin doch da.«
25.
Über Nola
»Wie wird man eigentlich Schriftsteller, Harry?«
»Indem man nie
Weitere Kostenlose Bücher