Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
sie aus Aurora herausholen würde. Sie würde nie wieder die schmierigen Tische und Toiletten dieses Hinterwäldlerrestaurants putzen müssen, sondern am Broadway Karriere machen und in Kalifornien Filme drehen. Die Zeitungen würden über sie als Paar berichten.
Sie bildete sich das nicht ein, ihre Phantasie spielte ihr keinen Streich: Es war ganz offensichtlich etwas zwischen ihr und Harry. Er liebte sie auch, daran bestand kein Zweifel. Warum sonst kam er jeden Tag ins Clark’s? Jeden Tag! Und ihre Gespräche an der Theke! Ach, wie sie es liebte, wenn er sich ihr gegenüber hinsetzte, um ein wenig mit ihr zu plaudern! Er war anders als alle Männer, die sie bisher kennengelernt hatte, viel reifer. Ihre Mutter hatte den Kellnerinnen ja Anweisungen erteilt und ihnen insbesondere verboten, mit Harry zu reden oder ihn abzulenken, und sie hatte Jenny zu Hause schon so manches Mal gemaßregelt, weil sie ihr Betragen ihm gegenüber unpassend fand. Aber ihre Mutter begriff überhaupt nichts. Sie verstand nicht, dass Harry sie so sehr liebte, dass er ein Buch über sie schrieb.
Schon seit Tagen ahnte Jenny etwas in dieser Richtung, und an diesem Morgen wurde ihre Ahnung zur Gewissheit. Bei Tagesanbruch erschien Harry im Clark’s, genauer gesagt, um sechs Uhr dreißig, kurz nach der Öffnung. Er kam nur selten so früh. Normalerweise ließen sich um diese Uhrzeit nur Fernfahrer und Vertreter blicken. Kaum hatte er sich an seinem angestammten Platz niedergelassen, fing er wie ein Verrückter an zu schreiben. Er legte sich dabei fast aufs Papier, als befürchtete er, jemand könnte das Geschriebene sehen. Ab und zu hielt er inne und betrachtete sie lange. Sie tat zwar, als merkte sie nichts, aber sie wusste, dass er sie mit den Augen verschlang. Zuerst hatte sie sich seine durchdringenden Blicke nicht erklären können. Erst kurz vor Mittag begriff sie, dass er ein Buch über sie schrieb. Ja, um sie, Jenny Quinn, drehte sich alles im neuen Meisterwerk von Harry Quebert. Deshalb wollte er nicht, dass man seine Notizen sah. Kaum war ihr das klar geworden, spürte sie, wie eine gewaltige Erregung sie erfasste. Zur Mittagszeit nutzte sie die Gelegenheit, ihm die Karte zu bringen und ein wenig mit ihm zu plaudern.
Er hatte den ganzen Vormittag damit verbracht, die vier Buchstaben ihres Vornamens zu schreiben: N-O-L-A . Ihr Bild ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, ihr Gesicht beherrschte sein Denken. Ab und zu schloss er die Augen, um sie sich zu vergegenwärtigen. Gleich darauf wehrte er sich wieder dagegen und starrte Jenny an in der Hoffnung, Nola darüber zu vergessen. Jenny war eine sehr attraktive Frau, warum konnte er nicht sie lieben?
Als er Jenny kurz vor zwölf Uhr mit der Karte und einem Kaffee auf sich zukommen sah, deckte er seine Notizen mit einem leeren Blatt Papier zu, wie er es immer tat, wenn sich jemand näherte.
»Es ist Zeit, etwas zu essen, Harry«, befahl Jenny in allzu mütterlichem Ton. »Bis auf gut anderthalb Liter Kaffee haben Sie den ganzen Vormittag nichts zu sich genommen. Mit so einem leeren Bauch kriegen Sie Sodbrennen.«
Er zwang sich dazu, ein höfliches Lächeln aufzusetzen und sich auf ein kurzes Gespräch mit ihr einzulassen. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Rasch wischte er ihn mit dem Handrücken ab.
»Ihnen ist ja heiß, Harry. Sie arbeiten zu viel!«
»Schon möglich.«
»Und? Sind Sie inspiriert?«
»Ja. Zurzeit läuft es nicht schlecht, würde ich sagen.«
»Sie haben den ganzen Vormittag nicht einmal aufgeblickt.«
»In der Tat.«
Jenny lächelte vielsagend, um ihm klarzumachen, dass sie alles über das Buch wusste. »Harry … Ich weiß, es ist gewagt, aber … Dürfte ich es lesen? Nur ein paar Seiten? Ich bin so gespannt, was Sie schreiben. Es müssen wunderschöne Worte sein.«
»Es ist noch nicht soweit.«
»Oh, es ist bestimmt schon ganz phantastisch.«
»Mal sehen, vielleicht später.«
Wieder lächelte sie. »Ich bringe Ihnen zur Erfrischung eine Limonade. Möchten Sie etwas essen?«
»Eier mit Speck, bitte.«
Sofort entschwand Jenny in die Küche und trällerte dem Koch zu: Eier und Speck für den grrroßen Schriftsteller! Ihre Mutter, die sie im Speisesaal hatte schwatzen sehen, rief sie zur Ordnung: »Jenny, ich möchte, dass du aufhörst, Mr Quebert zu belästigen!«
»Belästigen? Ach, Mom, du hast ja keine Ahnung: Ich inspiriere ihn.«
Tamara Quinn betrachtete ihre Tochter skeptisch. Sehr überzeugt wirkte sie nicht. Ihre Jenny war ja ein nettes
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