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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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sie nach Hause zu fahren. Ich habe sie einen Block von ihrem Elternhaus entfernt in einer einsamen Straße abgesetzt, damit sie keinen neugierigen Blicken ausgesetzt war. Sie hat mich gefragt, ob ich ein paar Schritte mit ihr gehen wollte, aber ich habe ihr erklärt, das sei kompliziert, die ganze Stadt würde sich das Maul zerreißen, wenn man uns zusammen spazieren gehen sah. Ich weiß noch, dass sie darauf geantwortet hat: ›Spazierengehen ist kein Verbrechen, Harry …‹ – ›Ich weiß, Nola. Aber ich glaube, die Leute würden sich Fragen stellen.‹ Da hat sie ein bisschen geschmollt. ›Ich bin doch so gerne mit Ihnen zusammen Harry! Sie sind ein ganz besonderer Mensch. Es wäre schön, wenn wir ein bisschen beieinander sein könnten, ohne uns verstecken zu müssen.‹«

    Samstag, 28. Juni 1975
    Ein Uhr mittags. Jenny Quinn hatte im Clark’s hinter der Theke zu tun. Jedes Mal, wenn die Tür des Restaurants aufging, zuckte sie zusammen und hoffte, dass er es war. Aber er war es nie. Jenny war nervös und sehr angespannt. Wieder fiel die Tür ins Schloss, aber auch diesmal war es nicht Harry, sondern ihre Mutter Tamara. Sie wunderte sich über die Aufmachung ihrer Tochter: Jenny hatte ein entzückendes cremefarbenes Kostüm an, das sie sonst nur zu besonderen Gelegenheiten trug.
    »Warum hast du das an, mein Schatz?«, wollte Tamara wissen. »Wo ist deine Schürze?«
    »Vielleicht habe ich keine Lust mehr, deine scheußlichen Schürzen zu tragen, weil sie mich hässlich machen? Ich habe doch das Recht, ab und zu ein bisschen hübsch auszusehen, oder nicht? Glaubst du, es macht mir Spaß, den ganzen Tag Steaks zu servieren?«
    Jenny hatte Tränen in den Augen.
    »Was ist denn los?«, fragte ihre Mutter.
    »Es ist Samstag, und normalerweise arbeite ich samstags nicht! Ich arbeite am Wochenende nie!«
    »Aber du hast selbst darauf bestanden, für Nola einzuspringen, als sie mich gefragt hat, ob sie heute freinehmen kann.«
    »Ja, kann sein, was weiß ich. Ach, Mom, ich bin so unglücklich!«
    Jenny spielte mit einer Ketchupflasche, und plötzlich rutschte sie ihr aus der Hand. Die Flasche zerbrach und überzog ihre blütenweißen Tennisschuhe mit roten Spritzern. Jenny fing an zu schluchzen.
    »Aber was ist denn mit dir los, mein Schatz?«, fragte ihre Mutter besorgt.
    »Ich warte auf Harry, Mom! Er kommt doch sonst immer am Samstag … Warum ist er dann heute nicht hier? Ach, Mom, ich bin so eine dumme Kuh! Wie konnte ich mir nur einbilden, dass er mich liebt? Ein Mann wie Harry würde nie eine gewöhnliche kleine Kellnerin aus einem Hamburgerrestaurant nehmen! Was bin ich für ein dummes Huhn!«
    »Ach was, sag so etwas nicht«, tröstete Tamara sie und umarmte sie. »Geh dich amüsieren, nimm dir den Tag frei! Ich vertrete dich. Ich will nicht, dass du weinst. Du bist ein wunderbares Mädchen, und ich bin mir sicher, dass Harry in dich verschossen ist.«
    »Aber warum ist er dann nicht hier?«
    Die Mutter überlegte kurz. »Wusste er denn, dass du heute arbeitest? Du arbeitest sonst nie am Samstag. Warum sollte er kommen, wenn du nicht da bist? Weißt du, was ich glaube, mein Schatz? Harry ist samstags bestimmt immer sehr unglücklich, weil er dich an dem Tag nicht sehen kann.«
    Jennys Miene hellte sich auf. »Ach, Mom, warum bin ich nicht selber darauf gekommen?«
    »Du solltest ihn zu Hause besuchen. Ich bin mir sicher, er freut sich sehr, dich zu sehen.«
    Jenny strahlte. Was für eine wunderbare Idee von ihrer Mutter! Sie würde Harry in Goose Cove besuchen und ihm ein schönes Picknick mitbringen. Der Arme arbeitete hart und hatte darüber bestimmt das Mittagessen vergessen. Sie eilte in die Küche, um etwas Proviant zusammenzusuchen.
    Zur selben Zeit machten Harry und Nola hundertzwanzig Meilen entfernt an der Strandpromenade des Städtchens Rockland in Maine ein Picknick. Nola warf ein paar riesigen, heiser kreischenden Möwen Brotkrumen zu.
    »Ich liebe Möwen!«, rief sie. »Möwen sind meine Lieblingsvögel. Vielleicht weil ich das Meer liebe und das Meer immer dort ist, wo die Möwen sind. Das stimmt wirklich: Selbst wenn die Sicht durch Bäume versperrt ist, erinnern uns die Möwen am Himmel daran, dass das Meer gleich dahinter liegt. Kommen in Ihrem Buch auch Möwen vor, Harry?«
    »Wenn du das möchtest. Ich schreibe alles in das Buch, was du willst.«
    »Wovon handelt es?«
    »Das würde ich dir gern sagen, aber ich kann nicht.«
    »Ist es eine Liebesgeschichte?«
    »In gewisser Weise.« Er

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