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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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ihn, um diese Stadt voranzubringen.«
    Tamara musste an ihre Tochter denken und konnte es sich nicht verkneifen, ihm die große Neuigkeit mitzuteilen: »Erzählen Sie es niemandem, Reverend, aber zwischen ihm und meiner Jenny läuft etwas.«
    David Kellergan lächelte und trank einen großen Schluck von seinem Milkshake.
    Achtzehn Uhr in Rockland. Sonnendurchwärmt nippten Harry und Nola auf einer Terrasse an ihren Fruchtsäften. Nola wollte, dass Harry ihr von seinem Leben in New York erzählte. Sie wollte alles wissen. »Erzählen Sie es mir«, verlangte sie. »Erzählen Sie mir, wie es ist, dort ein Star zu sein.« Ihm war klar, dass sie sich ein Leben voller Cocktailpartys vorstellte. Was sollte er ihr also erzählen? Dass er überhaupt nicht der war, für den man ihn in Aurora hielt? Dass ihn in New York niemand kannte? Dass sein erstes Buch keinen Erfolg gehabt hatte und er bis vor Kurzem ein ziemlich uninteressanter Lehrer an einer Highschool gewesen war? Dass er fast kein Geld mehr hatte, weil all seine Ersparnisse für die Miete von Goose Cove draufgegangen waren? Dass er nichts zu Papier brachte? Dass er ein Hochstapler war? Dass der großartige Harry Quebert, der renommierte Schriftsteller, der in einer Luxusvilla am Meer wohnte und seine Tage damit verbrachte, in Cafés herumzusitzen und zu schreiben, nur einen Sommer lang existieren würde? Aber wenn er ihr aus lauter Anstand die Wahrheit sagte, lief er Gefahr, sie zu verlieren. Also beschloss er, draufloszuphantasieren und die Rolle seines Lebens weiterzuspielen: die des talentierten, angesehenen, der roten Teppiche und der Hektik New Yorks überdrüssigen Genies, das es auf der Suche nach der nötigen Erholung in eine Kleinstadt New Hampshires verschlagen hatte.
    »Sie haben so ein Glück, Harry!«, staunte sie, während sie seinen Beschreibungen lauschte. »Was für ein aufregendes Leben Sie führen! Manchmal möchte ich davonfliegen, weit weg von hier, weit weg von Aurora. Ich ersticke hier nämlich. Meine Eltern sind schwierig. Mein Vater ist ein guter Mensch, aber er ist eben auch ein Kirchenmann und hat so seine Vorstellungen. Und meine Mutter ist so streng zu mir! Man könnte meinen, sie wäre selber nie jung gewesen. Und dann jeden Sonntagmorgen in die Kirche, das ödet mich an! Ich weiß nicht, ob ich an Gott glaube. Glauben Sie an Gott, Harry? Wenn Sie an Gott glauben, glaube ich auch an ihn.«
    »Ich weiß es nicht, Nola. Ich weiß es nicht mehr.«
    »Meine Mutter sagt, man muss an Gott glauben, sonst bestraft er uns hart. Manchmal sage ich mir, dass es im Zweifelsfall besser ist zu gehorchen.«
    »Weißt du«, erwiderte Harry, »der Einzige, der weiß, ob Gott existiert oder nicht, ist Gott selbst.«
    Darüber musste sie lachen. Es war ein naives, unschuldiges Lachen. Vorsichtig nahm sie seine Hand und fragte: »Hat man das Recht, seine Mutter nicht zu lieben?«
    »Ich denke schon. Liebe ist keine Pflicht.«
    »Aber in den Zehn Geboten steht: Du sollst deine Eltern lieben. Es ist das vierte oder fünfte, genau weiß ich es nicht. Aber im ersten Gebot heißt es auch, dass man an Gott glauben soll. Wenn ich nicht an Gott glaube, bin ich also auch nicht mehr verpflichtet, meine Mutter zu lieben, oder? Meine Mutter ist sehr streng. Manchmal sperrt sie mich in meinem Zimmer ein, weil sie mich schamlos findet. Dabei bin ich nicht schamlos, ich möchte nur frei sein. Ich möchte das Recht haben, ein bisschen zu träumen. Mein Gott, es ist schon achtzehn Uhr! Ach, könnte die Zeit doch stillstehen! Wir müssen zurück, und wir hatten nicht mal Zeit zu tanzen.«
    »Wir werden tanzen, Nola. Wir haben noch unser ganzes Leben Zeit zu tanzen.«
    Um zwanzig Uhr schreckte Jenny aus dem Schlaf auf. Beim Warten war sie auf dem Sofa eingedöst. Die Sonne ging gerade unter, es war Abend. Jenny lag mit gespreizten Beinen auf dem Diwan, in ihrem Mundwinkel glitzerte ein Speichelfaden, ihr Atem ging schwer. Rasch zog sie ihr Höschen hoch und knöpfte ihre Jacke wieder zu, dann packte sie hastig ihr Picknick ein und flüchtete tief beschämt aus dem Haus in Goose Cove.
    Wenige Minuten später erreichten sie Aurora. Harry hielt in einer Gasse in der Nähe des Jachthafens, damit Nola sich mit ihrer Freundin Nancy treffen und beide zusammen nach Hause gehen konnten. Sie blieben noch einen Augenblick im Auto sitzen. Die kleine Straße war menschenleer, es wurde gerade dunkel. Nola zog ein Päckchen aus ihrer Handtasche.
    »Was ist das?«, fragte Harry.
    »Machen Sie

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