Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
es auf. Es ist ein Geschenk für Sie. Ich habe es in dem kleinen Laden in der Stadtmitte entdeckt, wo wir den Saft getrunken haben. Es ist ein Andenken, damit Sie diesen wunderschönen Tag nie vergessen.«
Er öffnete die Verpackung: Es war eine blau lackierte Blechdose mit der Aufschrift: SOUVENIR AUS ROCKLAND, MAINE.
»Darin können Sie trockenes Brot sammeln«, erklärte Nola, »und damit zu Hause die Möwen füttern. Möwen muss man füttern, das ist wichtig.«
»Danke. Ich verspreche dir, die Möwen immer zu füttern.«
»Und jetzt sagen Sie etwas Nettes zu mir, liebster Harry. Sagen Sie, dass ich Ihre allerliebste Nola bin.«
»Allerliebste Nola …«
Sie lächelte und näherte sich seinem Gesicht, um ihn zu küssen. Er wich abrupt zurück.
»Nola«, sagte er schroff, »das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Das mit dir und mir, das wäre zu kompliziert.«
»Was wäre daran kompliziert?«
»Alles, Nola, alles. Deine Freundin wartet, es ist schon spät. Ich … Ich glaube, wir sollten uns nicht mehr sehen.«
Überstürzt stieg er aus dem Wagen, um ihr die Tür zu öffnen: Sie musste gehen, schnell: Es fiel ihm so schwer, ihr nicht zu sagen, wie sehr er sie liebte.
»Diese Brotdose in der Küche ist also ein Souvenir von Ihrem Tagesausflug nach Rockland?«, fragte ich.
»Richtig, Marcus. Ich füttere die Möwen, weil Nola mich damals darum gebeten hat.«
»Und was ist nach Rockland passiert?«
»Dieser Tag war so wunderschön gewesen, dass ich es mit der Angst bekommen habe. Es war wunderschön, aber viel zu kompliziert. Deshalb hatte ich beschlossen, mich von Nola fernzuhalten und auf ein anderes Mädchen auszuweichen. Auf ein Mädchen, das ich lieben durfte. Sie ahnen, auf wen?«
»Jenny.«
»Volltreffer.«
»Und?«
»Das erzähle ich Ihnen ein anderes Mal, Marcus. Wir haben viel geredet, ich bin müde.«
»Natürlich, das verstehe ich.« Ich schaltete das Aufnahmegerät aus.
24.
Erinnerungen an den Nationalfeiertag
»Nehmen Sie Deckungsposition ein, Marcus.«
»Deckungsposition?«
»Ja, na los! Heben Sie die Fäuste, achten Sie auf die Beinstellung, und machen Sie sich kampfbereit. Was fühlen Sie?«
»Ich … Ich fühle mich zu allem fähig.«
»So ist es gut. Sie sehen, Schreiben und Boxen liegen nah beieinander. Man nimmt die Deckungsposition ein, beschließt, sich in den Kampf zu stürzen, hebt die Fäuste und geht auf seinen Gegner los. Mit einem Buch ist es mehr oder weniger dasselbe. Ein Buch ist ein Kampf.«
»Du musst mit deinen Nachforschungen aufhören, Marcus.« Das waren Jennys erste Worte, als ich sie im Clark’s aufsuchte, um mit ihr über ihre Beziehung zu Harry im Jahr 1975 zu sprechen. Das lokale Fernsehen hatte über die Brandstiftung berichtet, und die Nachricht machte allmählich die Runde.
»Warum sollte ich?«, fragte ich.
»Weil ich mir große Sorgen um dich mache. Das gefällt mir nicht …« In ihrer Stimme schwang mütterliche Fürsorge mit. »Es fängt mit Brandstiftung an, und keiner weiß, wie es endet.«
»Ich werde diese Stadt nicht verlassen, bevor ich nicht herausgefunden habe, was vor dreiunddreißig Jahren passiert ist.«
»Du bist unmöglich, Marcus! Du bist so stur wie ein Esel, genau wie Harry!«
»Ich fasse das als Kompliment auf.«
Sie lächelte. »Also gut, was kann ich für dich tun?«
»Ich würde mich gern ein wenig mit dir unterhalten. Wenn du magst, könnten wir draußen eine kleine Runde drehen.«
Sie überließ das Clark’s ihrer Angestellten, und wir gingen zum Jachthafen. Dort setzten wir uns auf eine Bank mit Blick aufs Meer, und ich betrachtete die Frau neben mir, die meiner Rechnung nach siebenundfünfzig Jahre alt sein musste. Ihr Gesicht war vom Leben gezeichnet, sie war allzu mager, wirkte verbraucht und hatte Augenringe. Ich versuchte sie mir so vorzustellen, wie Harry sie mir beschrieben hatte, als hübsche junge, dralle Blondine, die Exschönheitskönigin der Highschool. Unvermittelt fragte sie mich: »Marcus … Wie fühlt er sich an?«
»Wer denn?«
»Der Ruhm.«
»Er ist eine Last. Er ist angenehm, aber oft auch eine Last.«
»Ich weiß noch gut, wie du Student warst und mit Harry ins Clark’s gekommen bist, um an deinen Texten zu arbeiten. Er hat dich ganz schön schuften lassen. Stunden habt ihr dort an seinem Tisch gesessen und gelesen und gekritzelt und immer wieder von vorn angefangen. Ich weiß auch noch, wie ich dir und Harry manchmal im Morgengrauen beim Joggen begegnet bin. Ihr hattet eine eiserne
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