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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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Disziplin. Wenn du bei ihm zu Besuch warst, hat er gestrahlt. Dann war er wie ausgewechselt. Wir wussten immer, wann du kommen würdest, weil er es schon Tage vorher allen auf die Nase gebunden hat. ›Habe ich euch schon erzählt, dass Marcus mich nächste Woche besuchen kommt? Er ist ein außergewöhnlicher Bursche. Er wird es mal weit bringen, das weiß ich.‹ So ging das Stundenlang. Deine Besuche, deine Gegenwart haben Abwechslung in sein Leben gebracht. Uns konnte er nichts vormachen: Wir wussten alle, wie einsam Harry in seinem großen Haus war. Ab dem Tag, an dem du in seinem Leben aufgetaucht bist, wurde das anders. Es war wie eine Wiedergeburt, als hätte es der alte Hagestolz doch noch geschafft, von jemandem geliebt zu werden. Deine Besuche haben ihm wahnsinnig gutgetan. Nach deiner Abreise ist er uns dann immer mit seinem ›Marcus hier‹, ›Marcus dort‹ auf den Wecker gegangen. Er war so stolz auf dich, stolz wie ein Vater auf seinen Sohn, und hat ständig von dir geredet. Du hast Aurora nie wirklich verlassen, Marcus. Und dann haben wir eines Tages dein Bild in der Zeitung gesehen: das Phänomen Marcus Goldman – ein großer Schriftsteller war geboren. Harry hat im Laden sämtliche Zeitungen gekauft und im Clark’s Champagnerrunden ausgegeben. Auf Marcus: Hipp, hipp, hurra! Wir haben dich im Fernsehen gesehen und im Radio gehört, alle Welt hat nur noch über dich und dein bescheuertes Buch geredet. Harry hat Dutzende Exemplare davon gekauft und überall verschenkt. Wir haben ihn gefragt, wie es dir geht und wann wir dich wiedersehen. Er hat geantwortet, dass es dir bestimmt sehr gut geht, er aber nicht mehr viel von dir hört und dass du wohl sehr viel um die Ohren hast. Du hast ihn von einem Tag auf den anderen nicht mehr angerufen, Marc. Du warst so damit beschäftigt, wichtig zu sein, in der Zeitung zu stehen und dich im Fernsehen zu produzieren, dass du ihn darüber vergessen hast. Du hast dich hier nie mehr blicken lassen. Dabei war er so stolz auf dich. Er hat auf ein kleines Zeichen von dir gewartet, aber es ist nie gekommen. Du hattest es geschafft, du warst jetzt berühmt, also brauchtest du ihn nicht mehr.«
    »Das ist nicht wahr!«, rief ich. »Gut, ich habe mich vom Erfolg mitreißen lassen, aber ich habe an Harry gedacht, jeden Tag. Ich hatte keine Sekunde mehr für mich.«
    »Nicht mal eine Sekunde, um ihn anzurufen?«
    »Ich habe ihn angerufen!«
    »Ja, das hast du, aber erst als du bis zum Hals in der Scheiße gesteckt hast. Weil der große Schriftsteller, nachdem er wer weiß wie viele Millionen von seinem Buch verkauft hatte, plötzlich die Hosen voll hatte und nicht mehr wusste, was er schreiben sollte. Auch das haben wir aus erster Hand erfahren, deshalb weiß ich das alles. Harry, der tief besorgt im Clark’s an der Theke sitzt, weil er gerade einen Anruf von dir bekommen hat: Du bist ja so deprimiert, du hast keine Idee für dein Buch, dein Verleger will dir die ganze schöne Kohle wegnehmen. Und plötzlich kreuzt du mit traurigem Hundeblick wieder in Aurora auf, und Harry tut alles, um dich aufzumuntern. Armer, kleiner, unglücklicher Schriftsteller, worüber sollst du bloß schreiben? Und dann geschieht vor zwei Wochen das Wunder: Der Skandal bricht aus, und wer taucht hier plötzlich auf? Der liebe Marcus! Was suchst du bei uns in Aurora, Marcus? Die Inspiration für dein nächstes Buch?«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Das sagt mir meine Intuition.«
    Ich war wie vor den Kopf geschlagen und antwortete nicht sofort. Dann sagte ich: »Mein Verleger hat mir vorgeschlagen, ein Buch über die Sache zu schreiben, aber ich werde es nicht tun.«
    »Aber Marcus: Du musst es schreiben! So ein Buch ist wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, Amerika zu beweisen, dass Harry kein Unmensch ist. Er hat nichts getan, da bin ich mir sicher. Das spüre ich einfach. Du darfst ihn jetzt nicht hängen lassen, er hat niemanden außer dir. Du bist berühmt, die Leute werden auf dich hören. Du musst ein Buch über Harry und eure gemeinsamen Jahre schreiben. Du musst erzählen, was für ein außergewöhnlicher Mensch er ist.«
    Leise fragte ich: »Du liebst ihn, nicht wahr?«
    Sie schlug die Augen nieder. »Ich glaube, ich weiß gar nicht, was Liebe ist.«
    »Und ob du das weißt! Man braucht sich nur anzuhören, wie du über ihn sprichst, auch wenn du dir noch so sehr Mühe gibst, ihn zu hassen.«
    Sie lächelte traurig und sagte mit tränenerstickter Stimme: »Seit über dreißig Jahren

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