Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
könnten auch hier zusammen glücklich sein. Sie wären sich selbst genug und würden nichts weiter brauchen. Sie stellte den Imbiss mit etwas Geschirr, das sie in einem Schrank fand, im Esszimmer auf den Tisch und setzte sich in einen Sessel, um auf ihn zu warten. Sie wollte ihn überraschen.
Geduldig wartete sie eine Stunde. Wo steckte er nur? Als ihr langweilig wurde, beschloss sie, sich den Rest des Hauses anzusehen. Der erste Raum, den sie betrat, war das Arbeitszimmer im Erdgeschoss. Es war eher winzig, aber gut ausgestattet mit einem Schrank, einem Sekretär aus Ebenholz, einer Bücherwand und einem großen Holzpult, auf dem Papiere und Stifte verstreut lagen. Dort also arbeitete Harry. Sie trat ans Pult, um einen Blick darauf zu werfen, nichts weiter. Sie wollte sein Werk nicht entweihen, sein Vertrauen nicht missbrauchen, sondern nur sehen, was er den lieben langen Tag schrieb. Außerdem würde nie jemand davon erfahren. Von der Rechtmäßigkeit ihres Tuns überzeugt, nahm sie das oberste Blatt vom Stapel und las mit klopfendem Herzen. Die ersten Zeilen waren mit schwarzem Filzstift durchgestrichen, sodass sie sie nicht entziffern konnte. Doch danach las sie klar und deutlich:
Ich gehe nur ins Clark’s, um sie zu sehen. Ich gehe nur hin, um in ihrer Nähe zu sein. Sie ist alles, was ich mir immer erträumt habe. Ich bin von ihr besessen. Sie beherrscht mein Denken. Dabei habe ich nicht das Recht dazu. Ich sollte es nicht tun. Ich sollte nicht dorthin gehen, ich sollte nicht einmal in dieser Unglücksstadt bleiben. Ich sollte fortgehen, fliehen, nie zurückkehren. Ich habe nicht das Recht, sie zu lieben. Es ist verboten. Bin ich verrückt?
Vor Glück strahlend, küsste Jenny das Papier und presste es an ihre Brust. Dann machte sie ein paar Tanzschritte und rief: »Harry, mein Liebster, Sie sind nicht verrückt! Ich liebe Sie auch, und Sie haben alles Recht der Welt auf mich. Fliehen Sie nicht, mein Liebster! Ich liebe Sie so!« Was für eine aufregende Entdeckung! Aus Angst, ertappt zu werden, legte sie das Blatt rasch wieder aufs Pult und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort streckte sie sich auf dem Sofa aus, schob den Rock hoch, sodass ihre Schenkel zu sehen waren, und knöpfte die Kostümjacke auf, bis ihre Brüste hervorlugten. Noch nie hatte jemand etwas so Schönes für sie geschrieben. Sobald er zurückkam, würde sie sich ihm hingeben. Sie würde ihm ihre Jungfräulichkeit schenken.
Im selben Augenblick betrat David Kellergan das Clark’s, setzte sich an die Theke und bestellte wie immer einen großen lauwarmen Granatapfel-Milkshake.
»Ihre Tochter ist heute nicht hier, Reverend«, sagte Tamara Quinn zu ihm, als sie ihn bediente. »Sie hat sich freigenommen.«
»Das weiß ich, Mrs Quinn. Sie ist mit Freunden auf dem Meer. Sie ist in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen. Ich habe ihr angeboten, sie zu fahren, aber das hat sie abgelehnt. Sie hat gesagt, ich soll im Bett bleiben und mich ausruhen. Sie ist so ein liebes kleines Ding.«
»Sie haben völlig recht, Reverend. Ich bin mit ihr auch hochzufrieden.«
Als David Kellergan lächelte, betrachtete Tamara den kleinen, leutseligen Mann mit dem sanften Gesicht und den runden Brillengläsern einen Augenblick. Er musste um die fünfzig sein, war von schlankem, fast zartgliedrigem Wuchs, und doch ging von ihm eine große Kraft aus. Seine Stimme war ruhig und bedächtig, und er wurde niemals laut. Sie schätzte ihn sehr, wie übrigens alle in der Stadt. Und sie mochte seine Predigten, auch wenn er mit dem abgehackten Akzent des Südens sprach. Seine Tochter kam ganz nach ihm: sanftmütig, freundlich, gefällig, zuvorkommend. David und Nola Kellergan waren gute Menschen, gute Amerikaner und gute Christen. Sie waren in Aurora sehr beliebt.
»Wie lange leben Sie jetzt in Aurora, Reverend?«, fragte Tamara Quinn. »Mir kommt es vor, als wären Sie schon immer hier.«
»Bald sechs Jahre, Mrs Quinn. Sechs schöne Jahre.« Der Reverend ließ den Blick kurz über die anderen Gäste wandern, und als Stammgast fiel ihm auf, dass Tisch 17 nicht besetzt war.
»Nanu!«, entfuhr es ihm. »Der Schriftsteller ist nicht da? Das kommt eher selten vor, oder?«
»Ja, er ist heute nicht hier. Was für ein charmanter Mann!«
»Mir ist er auch sehr sympathisch. Ich habe ihn hier kennengelernt. Er hat sich in der Highschool netterweise die Aufführung zum Schuljahresende angesehen. Ich würde ihn gerne als Gemeindemitglied gewinnen. Wir brauchen Persönlichkeiten wie
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