Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
musterte sie amüsiert. Er hielt ein Heft in der Hand und versuchte die Szene mit Bleistift einzufangen.
»Was machen Sie da?«, fragte sie.
»Eine Skizze.«
»Sie zeichnen auch? Sie können wirklich alles! Zeigen Sie her, ich möchte sie sehen!«
Sie rückte näher und war von der Zeichnung hellauf begeistert. »Wie schön sie ist, Harry! Sie sind so begabt!«
In einem Anfall von Zärtlichkeit schmiegte sie sich an ihn, doch er schob sie reflexartig weg und schaute sich um, weil er wissen wollte, ob jemand sie gesehen hatte.
»Warum tun Sie das?«, begehrte Nola auf. »Schämen Sie sich etwa meinetwegen?«
»Nola, du bist fünfzehn, und ich bin vierunddreißig. Die Leute würden das nicht gutheißen.«
»Das sind alles Idioten!«
Er lachte und hielt ihr wütendes Gesicht mit ein paar Zeichenstrichen fest. Wieder lehnte sie sich an ihn, und diesmal ließ er es zu. Gemeinsam schauten sie den Möwen zu, wie sie sich um die Brotkrumen zankten.
Sie hatten sich vor ein paar Tagen zu diesem Ausflug entschlossen. Er hatte sie nach der Schule unweit ihres Elternhauses an der Bushaltestelle abgepasst. Sie war überglücklich und zugleich erstaunt gewesen, ihn zu sehen.
»Harry? Was tun Sie hier?«, hatte sie gefragt.
»Das weiß ich auch nicht, aber ich hatte Lust, dich zu sehen. Ich … Weißt du, Nola, ich habe über deine Idee nachgedacht.«
»Zeit zu zweit zu verbringen?«
»Genau. Ich habe mir überlegt, dass wir am Wochenende irgendwohin fahren könnten. Nicht weit. Nach Rockland zum Beispiel. Dort kennt uns keiner, und wir könnten uns freier fühlen. Natürlich nur, wenn du Lust hast.«
»Oh, Harry, das wäre großartig! Aber es müsste am Samstag sein, weil ich am Sonntag den Gottesdienst nicht versäumen darf.«
»Dann also am Samstag. Kannst du es einrichten, dass du freikriegst?«
»Natürlich! Ich werde Mrs Quinn um einen freien Tag bitten. Und meinen Eltern werde ich schon irgendwas erzählen. Seien Sie unbesorgt.«
Meinen Eltern werde ich schon irgendwas erzählen. Bei diesen Worten hatte er sich gefragt, was bloß in ihn gefahren war, sich in einen Teenager zu vernarren. Auch jetzt, am Strand von Rockland, dachte er über sie beide nach.
»Woran denken Sie gerade, Harry?«, fragte Nola, noch immer an ihn geschmiegt.
»Daran, was wir gerade tun.«
»Was ist Schlimmes daran?«
»Das weißt du genau. Oder vielleicht auch nicht. Was hast du deinen Eltern erzählt?«
»Sie glauben, dass ich mit meiner Freundin Nancy Hattaway zusammen bin und dass wir heute Morgen so früh aufgebrochen sind, um den ganzen Tag auf dem Boot von Teddy Bapsts Vater zu verbringen. Teddy ist Nancys Freund.«
»Und wo ist Nancy?«
»Mit Teddy auf dem Boot. Allein. Sie hat behauptet, dass ich dabei bin, damit Teddys Eltern die beiden allein fahren lassen.«
»Ihre Mutter glaubt also, sie wäre mit dir zusammen, und deine glaubt, du wärst mit Nancy zusammen, und falls sie miteinander telefonieren, bestätigen sie sich das gegenseitig.«
»Genau. Der Plan ist bombensicher. Ich muss um zwanzig Uhr zu Hause sein. Haben wir noch Zeit, tanzen zu gehen? Ich würde so gerne mit Ihnen tanzen.«
Um fünfzehn Uhr traf Jenny in Goose Cove ein. Als sie vor dem Haus parkte, stellte sie fest, dass der schwarze Chevrolet nicht da war. Harry war offenbar weggefahren. Trotzdem klingelte sie: Wie zu erwarten, öffnete niemand. Sie ging ums Haus herum, um nachzusehen, ob er vielleicht auf der Terrasse saß, aber auch dort war niemand. Irgendwann beschloss sie, ins Haus zu gehen. Bestimmt war Harry nur frische Luft schnappen. Er arbeitete in letzter Zeit viel, er brauchte ab und zu eine Pause. Er würde sich sicher freuen, wenn er bei seiner Rückkehr auf dem Tisch einen schönen Imbiss vorfand: Sandwiches mit kaltem Braten, Eier, Käse, rohes Gemüse mit einer Kräutersoße zum Dippen, deren Rezept sie wie ein Geheimnis hütete, ein Stück Torte und saftiges Obst.
Jenny hatte das Haus in Goose Cove noch nie von innen gesehen. Sie fand alles prachtvoll. Das Haus war riesengroß und geschmackvoll eingerichtet; es hatte Sichtbalkendecken, große Bücherregale an den Wänden, lackierte Parkettböden und große Panoramafenster, die einen unverstellten Ausblick auf das Meer boten. Unweigerlich malte sie sich aus, wie sie hier mit Harry leben würde: im Sommer Frühstück auf der Terrasse, im Winter schön im Warmen aneinandergekuschelt am Wohnzimmerkamin, wo er ihr Passagen aus seinem neuen Roman vorlas. Warum eigentlich New York? Sie
Weitere Kostenlose Bücher