Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
stürmte wieder nach oben in ihr Zimmer und schluchzte, sie sehe grässlich aus, sie habe nichts anzuziehen und werde bis zum Ende ihres Lebens allein und hässlich bleiben.
Tamara war sehr nervös: Ihre Tochter sollte Harry Queberts Ansprüchen genügen. Er war ein ganz anderes Kaliber als die jungen Leute in Aurora, da durften sie sich keinen Patzer erlauben. Kaum hatte ihre Tochter sie von dem abendlichen Rendezvous in Kenntnis gesetzt, hatte sie ihr befohlen, das Clark’s zu verlassen: Der Mittagsbetrieb lief zwar gerade auf Hochtouren, das Restaurant brummte, aber Tamara wollte nicht, dass ihre Jenny sich auch nur eine Sekunde länger im Fettdunst aufhielt, weil dieser sich ja in ihrem Haar und auf ihrer Haut festsetzen könnte. Für Harry musste sie perfekt sein. Sie hatte Jenny zum Friseur und zur Maniküre geschickt, das Haus von oben bis unten geputzt und ein paar, wie sie fand, delikate Appetithäppchen hergerichtet, für den Fall, dass Harry vor der Weiterfahrt eine Kleinigkeit essen wollte. Jenny hatte sich also nicht getäuscht: Harry machte ihr den Hof. Tamara war sehr aufgeregt und hörte schon die Hochzeitsglocken läuten: Ihre Tochter würde endlich unter die Haube kommen. Da hörte sie die Eingangstür ins Schloss fallen: Ihr Mann Robert, der in Concord als Ingenieur in einer Handschuhfabrik arbeitete, war gerade nach Hause gekommen. Entsetzt riss sie die Augen auf.
Sogar Robert fiel auf, dass das Erdgeschoss geputzt und gründlich aufgeräumt worden war. In der Diele erblickte er einen hübschen Irisstrauß und Zierdeckchen, die er noch nie gesehen hatte.
»Was ist denn hier los, Bibichette?«, fragte er bei Betreten des Wohnzimmers, wo auf einem Beistelltisch süße Naschereien, herzhafte Kanapees, eine Flasche Champagner und Champagnerflöten bereitstanden.
»O je, Bobby, mein Bobbo«, sagte Tamara genervt, aber um einen freundlichen Ton bemüht. »Du kommst sehr ungelegen, ich kann dich hier gerade überhaupt nicht gebrauchen. Ich hatte doch eine Nachricht in der Fabrik hinterlassen.«
»Ich habe sie nicht bekommen. Worum ging’s denn?«
»Darum, dass du auf keinen Fall vor neunzehn Uhr nach Hause kommen sollst.«
»Aha. Und warum?«
»Weil Harry Quebert Jenny eingeladen hat, sich mit ihm heute Abend das Feuerwerk in Concord anzusehen, stell dir vor!«
»Wer ist Harry Quebert?«
»Ach, Bobbo, du könntest dich wenigstens ein bisschen für die mondäne Welt interessieren! Das ist der berühmte Schriftsteller, der Ende Mai hierhergezogen ist.«
»Aha, und warum sollte ich nicht nach Hause kommen?«
» Aha! Er sagt einfach nur ›Aha‹! Ein großer Schriftsteller hofiert unsere Tochter, und du sagst ›Aha‹. Genau deshalb: Du solltest nicht nach Hause kommen, weil du nicht weißt, wie man mit der Schickeria Konversation betreibt. Harry Quebert ist nämlich nicht irgendeine kleine Nummer: Er wohnt in dem Haus in Goose Cove.«
»In Goose Cove? Alle Achtung!«
»Für dich ist die Miete für dieses Haus vielleicht eine Stange Geld, aber für jemanden wie ihn ist sie ein Fliegenschiss ins Wasser. In New York ist er ein Star!«
»Ein Fliegenschiss ins Wasser? Den Ausdruck kannte ich nicht.«
»Ach, Bobbo, du hast wirklich von nichts eine Ahnung.«
Robert zog einen leichten Flunsch und trat an das Büfett, das seine Frau hergerichtet hatte.
»Rühr ja nichts an, Bobbo!«
»Was ist das für ein Zeug?«
»Das ist kein Zeug, das ist ein delikater Aperitif. So etwas ist schick.«
»Aber du hattest doch gesagt, dass wir heute Abend bei unseren Nachbarn zum Hamburgeressen eingeladen sind! Wir essen am 4. Juli immer Hamburger mit unseren Nachbarn!«
»Ja, ja, wir gehen ja auch hin, aber später! Und erzähl Harry Quebert bloß nicht, dass wir Hamburger wie die einfachen Leute essen!«
»Aber wir sind einfache Leute. Ich liebe Hamburger. Und du selbst hast ein Hamburgerrestaurant.«
»Du kapierst wirklich überhaupt nichts, Bobbo! Das ist etwas ganz anderes. Außerdem habe ich große Pläne.«
»Das wusste ich nicht. Davon hast du mir nichts erzählt.«
»Ich erzähle dir eben nicht alles.«
»Warum nicht? Ich erzähle dir doch auch alles. Übrigens hatte ich heute den ganzen Nachmittag Bauchweh. Ich hatte schreckliche Blähungen. Ich musste mich sogar in meinem Büro einsperren und auf alle viere gehen, so weh tat es. Siehst du, ich erzähle dir alles.«
»Das reicht, Bobbo! Du machst mich ganz kirre!«
Abermals präsentierte sich Jenny in einem anderen Kleid.
»Zu viel des
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