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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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am meisten über Nola verraten?«
    »Über Nola? Ihr Vater natürlich.«
    Ihr Vater. Natürlich.

23.
    Alle, die sie gut gekannt hatten
    »Und die Figuren? Wer inspiriert Sie denn zu Ihren Figuren?«
    »Jeder. Ein Freund, die Putzfrau, der Schalterangestellte in der Bank … Aber Vorsicht: Es sind nicht die Personen selbst, die einen als Schriftsteller inspirieren, sondern das, was sie tun. Ihre Art zu handeln bringt einen auf die Idee, was eine der Figuren im Roman tun könnte. Schriftsteller, die behaupten, sie ließen sich nicht von Menschen inspirieren, lügen. Aber sie haben allen Grund dazu: Damit ersparen sie sich eine Menge Scherereien.«
    »Inwiefern?«
    »Als Schriftsteller genießen wir das Privileg, dass wir durch unser Buch mit unseren Mitmenschen abrechnen können, Marcus. Die einzige Regel lautet, sie nicht namentlich zu nennen. Keine Eigennamen: Damit öffnet man Querelen und Prozessen Tür und Tor. Bei welchem Punkt auf der Liste sind wir?«
    »23.«
    »Hier kommt also Nummer 23, Marcus: Schreiben Sie nur erfundene Geschichten. Alles andere bringt Ihnen nur Ärger ein.«

Am Sonntag, dem 22. Juni 2008, lernte ich Reverend David Kellergan kennen. Es war einer dieser diesigen Sommertage, wie es sie nur in Neuengland gibt und an denen der vom Meer aufsteigende Dunst so dicht ist, dass er in den Baumwipfeln und an den Dächern hängen bleibt. Das Haus der Kellergans lag in der Terrace Avenue 245, im Herzen eines reizenden Wohnviertels. Dem Vernehmen nach hatte es sich seit ihrer Ankunft in Aurora nicht verändert: eine frisch gestrichene Fassade, gepflegte Büsche ringsum. Nur die seinerzeit gepflanzten Rosen waren mittlerweile zu Hecken gewuchert. Der Kirschbaum vor dem Haus war, als er vor zehn Jahren abstarb, durch ein Exemplar derselben Art ersetzt worden. Aus dem Haus drang ohrenbetäubend laute Musik. Ich läutete mehrmals, aber niemand öffnete. Schließlich rief mir ein Passant zu: »Wenn Sie den alten Kellergan suchen: Klingeln bringt nichts. Er ist in der Garage.« Also klopfte ich an die Garage, aus der die Musik auch tatsächlich kam. Nach langem, beharrlichem Klopfen ging endlich die Tür auf, und vor mir stand ein kleiner, gebrechlich wirkender alter Mann mit grauem Haar und ebenso grauer Haut in einem Arbeitshemd und mit einer Schutzbrille vor den Augen: der fünfundachtzigjährige David Kellergan.
    »Worum geht’s?«, brüllte er, um die unerträglich laute Musik zu übertönen, aber sein Gesicht war dabei freundlich.
    Ich musste mit den Händen einen Trichter formen, um mich verständlich zu machen. »Ich heiße Marcus Goldman. Sie kennen mich nicht, aber ich ermittle im Zusammenhang mit Nolas Tod.«
    »Sind Sie von der Polizei?«
    »Nein, ich bin Schriftsteller. Könnten Sie die Musik kurz abschalten oder zumindest ein wenig leiser stellen?«
    »Kommt nicht infrage. Ich mache die Musik nicht aus. Aber wenn Sie wollen, können wir ins Wohnzimmer gehen.«
    Er ließ mich durch die Garage herein: Der Raum war vollständig zu einer Werkstatt umgebaut, in deren Mitte ein Sammlerstück von Harley-Davidson thronte. In einer Ecke spielte ein alter, an eine Stereoanlage angeschlossener Plattenspieler Jazzklassiker ab.
    Ich hatte mich auf einen unfreundlichen Empfang gefasst gemacht, weil ich davon ausgegangen war, dass der alte Kellergan nach dem Ansturm durch die Journalisten ruhebedürftig war. Doch er erwies sich als äußerst liebenswürdig. Trotz meiner häufigen Besuche in Aurora war ich ihm noch nie begegnet. Anscheinend war er über meine Verbindung zu Harry nicht im Bilde, und ich hütete mich, ihm davon zu erzählen. Er bereitete uns zwei Gläser Eistee zu, und wir setzten uns ins Wohnzimmer. Die Schutzbrille hatte er aufbehalten, als könne er jederzeit wieder zu seinem Motorrad abberufen werden, und im Hintergrund lief immer noch die ohrenbetäubende Musik. Ich versuchte mir diesen Mann dreiunddreißig Jahre früher vorzustellen, als er noch der dynamische Pfarrer der St.-James-Gemeinde gewesen war.
    »Was führt Sie her, Mr Goldman?«, erkundigte er sich, nachdem er mich neugierig beäugt hatte. »Ein Buch?«
    »Genau weiß ich es selbst nicht, Reverend. Hauptsächlich versuche ich herauszufinden, was genau mit Nola passiert ist.«
    »Nennen Sie mich nicht Reverend, ich bin kein Reverend mehr.«
    »Das mit Ihrer Tochter tut mir sehr leid, Sir.«
    Ein überraschend warmes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Danke. Sie sind der Erste, der mir sein Beileid ausspricht, Mr Goldman.

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