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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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dieses Haus hier hat sie mir für einen Apfel und ein Ei überlassen.«
    Anschließend beschrieb mir David Kellergan die glücklichen, sorglosen Jahre in Aurora. Die schönsten seines Lebens, wie er sagte. Er rief sich die Sommerabende in Erinnerung, an denen er Nola erlaubt hatte, länger aufzubleiben und auf der Veranda vor dem Haus zu lesen. Wenn diese Sommer doch nur niemals geendet hätten. Er erzählte mir auch, dass seine Tochter das Geld, das sie samstags im Clark’s verdiente, gewissenhaft zur Seite gelegt hatte. Mit den Ersparnissen wollte sie nach Kalifornien ziehen und Schauspielerin werden, hatte sie gesagt. Er war so stolz gewesen, wenn er im Clark’s hörte, wie zufrieden die Gäste und auch die alte Quinn mit ihr waren. Nachdem sie verschwunden war, hatte er sich lange gefragt, ob sie womöglich nach Kalifornien gegangen war.
    »Warum?«, fragte ich. »Dachten Sie, Sie wäre von zu Hause weggelaufen?«
    »Weggelaufen? Wieso hätte sie weglaufen sollen?«, entrüstete er sich.
    »Und Harry Quebert? Kennen Sie ihn gut?«
    »Nein, kaum. Ich bin ihm ein paarmal begegnet.«
    »Kaum?«, hakte ich verwundert nach. »Sie wohnen seit über dreißig Jahren in derselben Stadt!«
    »Trotzdem kenne ich nicht alle, Mr Goldman. Außerdem lebe ich ziemlich zurückgezogen. Stimmt das denn alles? Das mit Harry Quebert und Nola? Hat er dieses Buch für sie geschrieben? Was hat es mit diesem Buch auf sich, Mr Goldman?«
    »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Ich glaube, Ihre Tochter hat Harry geliebt, und diese Liebe war gegenseitig. Dieses Buch erzählt die Geschichte einer unmöglichen Liebe zwischen zwei Menschen unterschiedlicher Herkunft.«
    »Das weiß ich!«, rief er. »Das weiß ich alles! Dann hat Quebert also Perversion durch unterschiedliche Herkunft ersetzt, um respektabel zu bleiben, und das Buch damit millionenfach verkauft, oder was? Ein Buch voller obszöner Geschichten über meine Tochter, meine kleine Nola, das ganz Amerika gelesen und dreißig Jahre lang verherrlicht hat!«
    Reverend Kellergan hatte sich in Rage geredet und die letzten Worte mit einer Heftigkeit hervorgestoßen, die ich dem gebrechlich wirkenden Mann nicht zugetraut hätte. Er verstummte kurz und ging im Zimmer im Kreis, als müsste er seiner Wut Luft machen. Im Hintergrund brüllte immer noch die Musik. Ich sagte zu ihm: »Harry Quebert hat Nola nicht getötet.«
    »Wie können Sie sich da so sicher sein?«
    »Sicher ist man sich nie, Mr Kellergan. Deshalb ist das Leben manchmal so kompliziert.«
    Er verzog das Gesicht. »Was wollen Sie wissen, Mr Goldman? Sie sind doch bestimmt hier, weil Sie mir ein paar Fragen stellen wollen, oder nicht?«
    »Ich versuche zu begreifen, was damals passiert ist. An dem Abend, an dem Ihre Tochter verschwunden ist – haben Sie da nichts gehört?«
    »Nein, nichts.«
    »Ein paar Nachbarn haben damals ausgesagt, sie hätten Schreie gehört.«
    »Schreie? Es gab keine Schreie. In diesem Haus wurde nicht geschrien. Wo hätten die Schreie herkommen sollen? An jenem Tag war ich in der Garage beschäftigt, und zwar den ganzen Nachmittag. Punkt neunzehn Uhr habe ich angefangen, Abendessen zu machen. Ich bin in ihr Zimmer gegangen, um sie zu holen, damit sie mir hilft, aber sie war nicht mehr da. Zuerst habe ich mir gesagt, dass sie vielleicht hinausgegangen ist, um eine Runde um den Block zu drehen, obwohl das nicht ihre Art war. Ich habe ein wenig gewartet, und als ich unruhig wurde, habe ich selbst eine Runde durchs Viertel gemacht. Ich war auf dem Gehsteig noch nicht mal hundert Schritte weit gekommen, als ich auf eine Menschenansammlung stieß. Die Nachbarn hatten sich gegenseitig informiert, dass in Side Creek eine blutende junge Frau gesehen worden war und dass Einsatzfahrzeuge der Polizei aus dem ganzen Umkreis anrückten und die Straßen abriegelten. Ich bin ins nächstbeste Haus gerannt, um bei der Polizei anzurufen und zu sagen, dass es sich vielleicht um Nola handelte … Ihr Zimmer lag im Erdgeschoss, Mr Goldman. Ich habe mich über dreißig Jahre lang gefragt, was meiner Tochter widerfahren ist. Und immer wieder habe ich mir gesagt, wenn ich noch mehr Kinder hätte, würde ich sie auf dem Dachboden schlafen lassen. Aber ich habe kein anderes Kind.«
    »Hat sich Ihre Tochter in jenem Sommer irgendwie seltsam verhalten, bevor sie verschwunden ist?«
    »Nein. Besser gesagt, ich weiß es nicht mehr. Ich glaube nicht. Auch das ist eine Frage, die ich mir oft stelle und auf die ich keine Antwort

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