Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Seit zwei Wochen redet die ganze Stadt über meine Tochter. Alle stürzen sich auf die Zeitungen, um sich über die neuesten Entwicklungen zu informieren, aber bisher ist kein Einziger gekommen, um nachzufragen, wie es mir geht. Die Einzigen, die, von Journalisten abgesehen, an meiner Tür klingeln, sind Nachbarn, die sich über den Lärm beschweren. Trauernde Väter haben doch das Recht, Musik zu hören, oder nicht?«
»Unbedingt, Sir.«
»Sie schreiben also an einem Buch?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich es überhaupt noch kann. Es ist so schwierig, gut zu schreiben. Mein Verleger will, dass ich ein Buch über diesen Fall mache. Er sagt, das würde meine Karriere wiederankurbeln. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ein Buch über Nola geschrieben würde?«
Er zuckte mit den Schultern. »Nein, sofern es Eltern hilft, vorsichtiger zu sein. Wissen Sie, an dem Tag, an dem meine Tochter verschwunden ist, war sie in ihrem Zimmer. Ich habe in der Garage bei Musik gearbeitet und nichts gehört. Als ich zu ihr gegangen bin, war sie weg. Das Fenster in ihrem Zimmer stand offen. Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Ich habe nicht gut auf meine Tochter aufgepasst. Schreiben Sie ein Buch für die Eltern, Mr Goldman. Eltern müssen sehr auf ihre Kinder achtgeben.«
»Was haben Sie an jenem Tag in der Garage gemacht?«
»Das Motorrad hergerichtet. Die Harley, die Sie eben gesehen haben.«
»Schöne Maschine.«
»Danke. Die hatte ich damals bei einem Karosseriebauer in Montburry entdeckt. Er hat gesagt, er könnte nichts mehr mit ihr anfangen, und hat sie mir für symbolische fünf Dollar überlassen. Das habe ich getan, als meine Tochter verschwunden ist: Ich habe an diesem kaputten Motorrad herumgeschraubt.«
»Wohnen Sie hier allein?«
»Ja. Meine Frau ist schon vor Langem gestorben …«
Er stand auf und brachte mir ein Fotoalbum. Darin zeigte er mir Nola als kleines Kind und seine Frau Louisa. Sie sahen glücklich aus. Ich war erstaunt, wie unbefangen er sich mir anvertraute, obwohl er mich eigentlich gar nicht kannte. Ich glaube, es ging ihm vor allem darum, seine Tochter für einen kurzen Moment wieder lebendig werden zu lassen. Er erzählte mir, dass sie im Herbst 1969 nach Aurora gekommen waren und ursprünglich aus Jackson in Alabama stammten. Obwohl ihre Glaubensgemeinschaft dort stetig gewachsen war, hatte der Drang in die Ferne gesiegt. Die Gemeinde von Aurora hatte einen neuen Reverend gesucht, und er hatte die Stelle bekommen. Hauptgrund für ihren Umzug nach New Hampshire war jedoch der Wunsch gewesen, einen ruhigen Ort zu finden, an dem Nola aufwachsen konnte. Zu jener Zeit hatte das Land im Innern gebrannt; politische Zerwürfnisse, Rassentrennung und der Vietnamkrieg hatten es gespalten. Die Geschehnisse des Jahres 1967 – etwa die Rassenunruhen in Saint-Quentin und die Brände in den schwarzen Vierteln von Newark und Detroit – hatten sie veranlasst, nach einem Ort zu suchen, der von solchen Krawallen verschont bleiben würde. Als sein kleines, unter der Last des Wohnwagens ächzendes Auto dann die Ufer der großen Seerosenteiche bei Montburry erreicht hatte und er, bevor sie in die Senke nach Aurora hinabgefahren waren, dieses wunderschöne, beschauliche Städtchen in der Ferne hatte liegen sehen, hatte sich David Kellergan zu seiner Wahl beglückwünscht. Wie hätte er auch ahnen sollen, dass dort sechs Jahre später seine einzige Tochter verschwinden sollte?
»Ich bin vorhin an Ihrer ehemaligen Kirche vorbeigekommen«, sagte ich. »Dort steht jetzt ein McDonald’s.«
»Die ganze Welt ist dabei, sich in ein McDonald’s zu verwandeln, Mr Goldman.«
»Aber was ist aus Ihrer Gemeinde geworden?«
»Es ging ihr jahrelang prächtig. Dann ist meine Nola verschwunden, und alles hat sich verändert. Das heißt, vor allem eines hat sich geändert: Ich habe aufgehört, an Gott zu glauben. Wenn es Gott wirklich gäbe, würden keine Kinder verschwinden. Ich stand vollkommen neben mir, aber niemand hat gewagt, mich vor die Tür zu setzen. Nach und nach hat sich die Gemeinde dann wiederaufgelöst. Vor fünfzehn Jahren wurde die Pfarrei von Aurora dann aus wirtschaftlichen Gründen mit der von Montburry zusammengelegt. Die Kirche selbst wurde verkauft. Die Gläubigen fahren jetzt sonntags immer nach Montburry. Nach Nolas Verschwinden war ich nicht mehr in der Lage, meinen Pflichten nachzukommen, aber gekündigt habe ich erst sechs Jahre später. Die Gemeinde zahlt mir bis heute eine Pension, und
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