Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
weiß.«
Immerhin erinnerte er sich noch, dass Nola damals zu Beginn der Schulferien zeitweise sehr melancholisch gewirkt hatte. Er hatte es jedoch auf die Pubertät geschoben. Anschließend fragte ich, ob ich mir das Zimmer seiner Tochter ansehen dürfe. Er geleitete mich wie ein Museumswärter hin und wies mich an: »Fassen Sie bitte nichts an.« Seit ihrem Verschwinden hatte er in ihrem Zimmer nichts verändert. Alles befand sich an Ort und Stelle: das Bett, das mit Puppen vollgestopfte Bord, das kleine Bücherregal, der Schreibtisch, auf dem Stifte, ein langes Eisenlineal und vergilbte Papiere verstreut lagen. Es war Briefpapier, und zwar dasselbe, auf dem die Nachricht an Harry geschrieben worden war.
»Sie kaufte dieses Papier immer in einem Schreibwarenladen in Montburry«, klärte mich ihr Vater auf, als er bemerkte, dass ich mich dafür interessierte. »Sie liebte es. Sie hatte immer welches dabei, um sich Notizen zu machen oder eine Nachricht zu hinterlassen. Dieses Papier, das war sie. Sie besaß immer mehrere Blöcke in Reserve.«
In einer Zimmerecke stand eine tragbare Remington.
»War das ihre?«, fragte ich.
»Nein, meine. Aber sie hat sie auch benutzt. In dem Sommer, in dem sie verschwunden ist, hat sie sehr oft darauf geschrieben. Sie sagte, sie müsse wichtige Dokumente tippen. Sie hat sie sogar regelmäßig mitgenommen. Ich habe ihr angeboten, sie zu fahren, aber das wollte sie nicht. Sie ist zu Fuß gegangen und hat sie mitgeschleppt.«
»Das Zimmer sieht also noch genauso aus wie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens?«
»Ja, es ist alles unverändert. Als ich sie holen wollte, war ihr Zimmer leer. Das Fenster stand weit offen, und eine leichte Brise bewegte die Vorhänge.«
»Glauben Sie, dass an jenem Abend jemand in ihr Zimmer eingedrungen ist und sie verschleppt hat?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe jedenfalls nichts gehört. Aber wie Sie selbst sehen können, gibt es keine Kampfspuren.«
»Die Polizei hat eine Tasche bei ihr gefunden. In die Innenseite dieser Tasche war ihr Name geprägt.«
»Ja, man hat mich gebeten, die Tasche zu identifizieren. Ich hatte sie Nola zu ihrem fünfzehnten Geburtstag geschenkt. Sie hatte die Tasche in Montburry entdeckt, als wir einmal zusammen dort waren. Ich erinnere mich noch an das Geschäft in der Hauptstraße. Ich bin am nächsten Tag noch mal hingefahren, um sie zu kaufen, und habe von einem Sattler ihren Namen hineinprägen lassen.«
Ich stellte eine Hypothese auf: »Also, wenn das ihre Tasche war, heißt das, dass sie sie mitgenommen hat. Und wenn sie sie mitgenommen hat, heißt das, dass sie irgendwohin wollte, oder nicht? Mr Kellergan, ich weiß, Sie können sich das nur schwer vorstellen, aber könnte es nicht doch sein, dass Nola weglaufen wollte?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, Mr Goldman. Diese Frage hat mir die Polizei schon vor dreißig Jahren gestellt und vor ein paar Tagen wieder. Aber hier fehlt nichts. Keine Kleidung, kein Geld, nichts. Schauen Sie, ihre Sparbüchse steht dort im Regal, und sie ist voll.« Er griff nach einer Keksdose weiter oben im Regal. »Sehen Sie, es sind hundertzwanzig Dollar drin! Hundertzwanzig Dollar! Warum hätte sie die hierlassen sollen, wenn sie weglaufen wollte? Die Polizei hat erzählt, dass dieses verfluchte Buch in ihrer Tasche war. Stimmt das?«
»Ja.« Mir schwirrten die Fragen nur so im Kopf herum: Warum hätte Nola ohne Kleidung und ohne Geld weglaufen sollen? Welchen Grund hätte sie gehabt, nur dieses Manuskript mitzunehmen?
In der Garage hatte die Platte gerade ihr letztes Stück abgespielt, und Nolas Vater stürzte hin, um die Nadel wieder an den Anfang zu setzen. Ich wollte ihn nicht länger stören, deshalb grüßte ich ihn und ging, doch vorher schoss ich noch rasch ein Foto von der Harley-Davidson.
Wieder in Goose Cove, ging ich zum Boxen an den Strand. Zu meiner großen Überraschung bekam ich kurz darauf Gesellschaft von Sergeant Gahalowood, der vom Haus herunterkam. Da ich die Stöpsel in den Ohren hatte, bemerkte ich ihn erst, als er mir auf die Schulter klopfte.
»Sie sind in Form!«, meinte er mit einem anerkennenden Blick auf meinen nackten Oberkörper und wischte sich an der Hose meinen Schweiß von der Hand.
»Ich versuche, mich fit zu halten.« Ich zog mein Aufnahmegerät aus der Tasche und schaltete es aus.
»Ein Minidisc-Player?«, fragte er in seinem unangenehmen Tonfall. »Wussten Sie, dass Apple die Welt revolutioniert hat und man Musik
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