Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
ich?«
»Dass ich ein Hochstapler bin.«
Pinkas legte freundschaftlich die Hand auf seine Schulter. »Ein Hochstapler? Ach, was! Reden Sie keinen Blödsinn! Ich habe Ihr Buch gelesen und war begeistert! Deshalb wollte ich es nachbestellen. Es ist ein großartiges Buch, Harry! Muss man ein berühmter Schriftsteller sein, um ein guter Schriftsteller zu sein? Sie haben enormes Talent, und ich bin mir sicher, dass Sie schon bald sehr bekannt sein werden. Wer weiß, vielleicht wird das Buch, an dem Sie gerade schreiben, ja ein Meisterwerk …«
»Und wenn ich es nicht schaffe?«
»Sie werden es schaffen, das weiß ich.«
»Danke, Ernie.«
»Danken Sie mir nicht, das ist die Wahrheit. Und keine Sorge, ich werde niemandem etwas verraten. Das bleibt unter uns.«
Sonntag, 6. Juli 1975
Um Punkt fünfzehn Uhr postierte Tamara Quinn ihren Mann im Anzug mit einem Glas Champagner in der Hand und einer Zigarre im Mund auf der Vorderveranda ihres Hauses.
»Nicht bewegen!«, schärfte sie ihm ein.
»Aber das Hemd kratzt, Bibichette.«
»Halt den Mund, Bobbo! Die Hemden waren sehr teuer, und was teuer ist, kratzt nicht.«
Bibichette hatte die neuen Hemden in einem namhaften Geschäft in Concord erstanden.
»Warum darf ich meine alten Hemden nicht mehr anziehen?«, wollte Bobbo wissen.
»Das habe ich dir doch gesagt: Ich will nicht, dass du diese scheußlichen alten Klamotten trägst, wenn ein berühmter Schriftsteller zu Besuch kommt!«
»Und die Zigarre schmeckt mir nicht …«
»Andersherum, du Rindvieh! Du hast sie falsch herum in den Mund gesteckt. Siehst du die Banderole nicht? Sie markiert das Mundstück.«
»Ich dachte, das wäre eine Schutzkappe.«
»Hast du denn gar keine Ahnung von Schickeria?«
»Du und deine Schickeria!«
»Du hast eben keine Ahnung, mein armer Bobbo. Harry kommt in einer Viertelstunde. Gib dir Mühe, würdevoll zu wirken. Und versuch ihn zu beeindrucken.«
»Wie soll ich das anstellen?«
»Rauch die Zigarre mit nachdenklicher Miene, wie ein Wirtschaftsboss. Und wenn er dich anspricht, setz eine überlegene Miene auf.«
»Wie soll das gehen: eine überlegene Miene aufsetzen?«
»Ausgezeichnete Frage: Da du dumm bist und von nichts Ahnung hast, musst du ihm ausweichen. Auf Fragen musst du mit Fragen antworten. Wenn er dich fragt: ›Waren Sie für oder gegen den Vietnamkrieg?‹, antwortest du: ›Wenn Sie mir diese Frage stellen, haben Sie sicher eine sehr klare Meinung zu diesem Thema.‹ Und dann – zack! – schenkst du ihm Champagner ein! Das nennt man Ablenkungsmanöver.«
»Ja, Bibichette.«
»Und enttäusche mich nicht.«
»Nein, Bibichette.«
Tamara ging wieder ins Haus, und Robert ließ sich verdrossen in einen Korbsessel fallen. Er konnte diesen Harry Quebert nicht ausstehen, diesen sogenannten König der Schriftsteller, der wohl eher der »König des Chichis« war. Und er konnte es nicht ausstehen, wenn seine Frau seinetwegen so ein übertriebenes Gebalze aufführte. Er machte nur mit, weil sie ihm versprochen hatte, dass er ihr heute Nacht den Hengst machen und sogar in ihrem Zimmer schlafen durfte – das Ehepaar Quinn hatte nämlich getrennte Schlafzimmer. Normalerweise ließ sie sich alle drei, vier Monate zum Geschlechtsverkehr breitschlagen, meist nach langem Betteln, aber er hatte schon ewig nicht mehr bei ihr schlafen dürfen.
Im ersten Stock war Jenny gerade fertig geworden. Sie trug eine elegante, ausladende Abendrobe mit üppigen Schulterpolstern, falschen Schmuck, allzu viel Lippenstift und jede Menge Ringe an den Fingern. Tamara zupfte das Kleid ihrer Tochter zurecht und lächelte ihr zu.
»Du siehst phantastisch aus, mein Schatz. Der gute Quebert dreht durch, wenn er dich sieht!«
»Danke, Mom. Aber ist das nicht übertrieben?«
»Übertrieben? Nein, es ist perfekt.«
»Wir gehen doch nur ins Kino!«
»Und danach? Was ist, wenn ihr schick essen geht? Hast du daran gedacht?«
»In Aurora gibt es kein schickes Restaurant.«
»Vielleicht hat Harry in einem feinen Restaurant in Concord einen Tisch für seine Verlobte bestellt.«
»Mom, wir sind noch nicht verlobt.«
»Ach, Schatz, aber bald, da bin ich mir sicher. Habt ihr euch schon geküsst?«
»Noch nicht.«
»Wenn er dich betatscht, lass ihn um Himmels willen machen.«
»Ja, Mom.«
»Was für eine reizende Idee von ihm, mit dir ins Kino zu gehen!«
»Eigentlich war es meine Idee. Ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen, ihn angerufen und gesagt: ›Mein lieber Harry, Sie arbeiten zu
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