Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
an manchen Stellen schon zu schäumen beginnt, nämlich überall dort, wo sich von der Strömung angespülte Picknickreste sammeln. Seit ein Knirps vor zwei Jahren auf eine gebrauchte Spritze getreten war, hatte die Gemeinde von Montburry Anstrengungen unternommen, den Uferbereich umzugestalten: Man hatte Picknicktische und Grillplätze eingerichtet, um die Ausbreitung wilder Feuerstellen zu verhindern, die den Rasen in eine Mondlandschaft verwandelten; die Zahl der Mülleimer war beträchtlich erhöht worden, Toilettencontainer waren aufgestellt, der an den See grenzende Parkplatz vergrößert und betoniert sowie ein Reinigungstrupp eingesetzt worden, der die Ufer von Juni bis August täglich von Abfällen, Kondomen und Hundehaufen säuberte.
An dem Tag, an dem ich wegen meines Buchs an den See fuhr, hatten ein paar Gören gerade einen Frosch gefangen – vermutlich das letzte Lebewesen dieses Gewässers – und versuchten, ihn in Stücke zu reißen, indem sie gleichzeitig an beiden Hinterbeinen zogen.
In Erne Pinkas’ Augen war der See ein anschauliches Beispiel für den Niedergang der Menschheit in Amerika und auch auf der restlichen Welt. Vor dreiunddreißig Jahren hatte sich kaum jemand hierher verirrt. Der Zugang war beschwerlich gewesen: Man musste das Auto an der Straße stehen lassen, einen Waldstreifen durchqueren und sich gut eine halbe Meile durch hohes Gras und Heckenrosen schlagen. Aber die Mühe hatte sich gelohnt: Der von rosa blühenden Seerosen bedeckte und riesigen Trauerweiden gesäumte See war wunderschön. Durch das glasklare Wasser konnte man ganze Schwärme von kleinen Buntbarschen verfolgen, nach denen im Schilf aufgepflanzte Graureiher fischten. An einem Ende des Sees gab es sogar einen kleinen grauen Sandstrand.
Ans Ufer dieses Sees war Harry gekommen, um vor Nola zu fliehen. Dort war er am 5. Juli, als sie ihren ersten Brief in seine Haustür steckte.
Samstag, 5. Juli 1975
Es war später Vormittag, als er den See erreichte. Erne Pinkas war schon da und faulenzte am Ufer.
»Was machen Sie denn hier?«, frotzelte Pinkas, als er ihn sah. »Ist ja ein richtiger Schock, Sie mal woanders als im Clark’s zu sehen!«
Harry grinste. »Sie haben mir so von diesem See vorgeschwärmt, dass ich kommen musste.«
»Schön, nicht?«
»Wunderschön!«
»Das ist Neuengland, Harry. Es ist ein geschütztes Paradies, und das gefällt mir daran. Überall sonst im Land bauen und betonieren sie alles im großen Stil zu. Aber hier ist es anders. Ich garantiere Ihnen, dass dieser Ort in dreißig Jahren noch genauso aussehen wird.«
Nach einem erfrischenden Bad ließen sie sich in der Sonne trocknen und plauderten über Literatur.
»Apropos Bücher, wie geht es mit Ihrem voran?«, erkundigte sich Pinkas.
»Puh«, machte Harry nur.
»Ziehen Sie nicht so ein Gesicht, ich bin mir sicher, es ist sehr gut.«
»Nein, ich glaube, es ist sehr schlecht.«
»Lassen Sie es mich lesen, von mir kriegen Sie eine ehrliche Meinung, versprochen. Was gefällt Ihnen nicht daran?«
»Alles. Ich bin nicht inspiriert. Ich weiß nicht, wie ich es anpacken soll. Ich glaube, ich weiß nicht mal, wovon ich rede.«
»Was für eine Art Geschichte ist es denn?«
»Eine Liebesgeschichte.«
»So, so, eine Liebesgeschichte«, wiederholte Pinkas und seufzte. »Sind Sie etwa verliebt?«
»Ja.«
»Das ist schon mal ein guter Anfang. Sagen Sie, Harry, fehlt Ihnen das große Leben nicht?«
»Nein, ich fühle mich hier wohl. Ich habe Ruhe gebraucht.«
»Was genau machen Sie eigentlich in New York?«
»Ich … ich bin Schriftsteller.«
Pinkas zögerte kurz, dann sagte er: »Harry, nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich habe mit einem Freund gesprochen, der in New York lebt …«
»Und?«
»Er hat gesagt, dass er Ihren Namen noch nie gehört hat.«
»Nicht jeder kennt mich … Wissen Sie, wie viele Menschen in New York leben?«
Pinkas lächelte, um zu zeigen, dass er es nicht böse meinte. »Ich glaube, niemand kennt Sie, Harry. Ich habe Kontakt mit dem Verlag aufgenommen, der Ihr Buch herausgegeben hat. Ich wollte es nachbestellen … Der Name des Verlags hat mir nichts gesagt, und zuerst dachte ich, ich hätte eben keine Ahnung … Bis ich herausgefunden habe, dass es sich um eine Druckerei in Brooklyn handelt. Ich habe dort angerufen, Harry: Sie haben eine Druckerei dafür bezahlt, dass sie Ihr Buch druckt!«
Beschämt ließ Harry den Kopf sinken. »Dann wissen Sie jetzt alles«, murmelte er.
»Was weiß
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