Die Wahrheit über Marie - Roman
Köpfen im strömenden Regen hastig Arzttaschen packten und Rucksäcke schulterten. Die Gruppe eilte über den Gehweg zum Haus, sie fanden die Haustür jedoch verschlossen, wurden in ihrem Schwung gebremst, sie versuchten wiederholt, die Tür aufzudrücken, sie mit Gewalt zu öffnen. Bis schließlich einer von ihnen auf die Straße zurücklief und suchend den Kopf zum Gebäude hob. Mit vom Regen triefendem Gesicht entdeckte er endlich Marie und schrie ihr zu, dass die Haustür verschlossen sei. Marie rief ihm sofort den Türcode zu, irrte sich aber und nannte ihm den alten, sie war zu verwirrt, dann nannte sie ihm den neuen, schrie ihn mehrmals durch ihre wie einen Trichter vor den Mund gelegten Hände und rannte in den Flur zurück, um die Wohnungstür zu öffnen. Sie machte einen Schritt auf den Treppenabsatz hinaus und hörte, wie unten der Schließmechanismus der Haustür entriegelt wurde und auch schon Schritte im Treppenhaus widerhallten, sie hörte das laute Getrampel der Helfer, die die Treppe emporhasteten und fast im selben Moment auch schon vor ihr in der Dunkelheit auftauchten. Ohne ein Wort zu verlieren, betraten sie die Wohnung, in der kein einziges Licht brannte, nur die Kontrollleuchte des Computers schimmerte schwach im Schlafzimmer. Es waren fünf Sanitäter, vier Männer und eine Frau. Entschlossen durchquerten sie den Flur und betraten mit weit ausholenden Schritten und ohne nach dem Weg zu fragen sofort das Schlafzimmer, als hätten sie gewusst, wo es sich befand, als hätten sie immer gewusst, wo sich in dieser Wohnung das Schlafzimmer befand, und schalteten dort als Erstes, ohne auch nur einen Blick auf den am Boden Liegenden zu werfen, ohne ihn zuerst zu untersuchen oder ihm schnell Hilfe zu leisten, das Licht im Zimmer an, es gab kein Deckenlicht im Schlafzimmer, nur eine Vielzahl kleiner Tischlampen, die Marie über die Jahre gesammelt hatte, die Tizio von Richard Sapper, die Tolomeo mit Chromkopf von Artemide, die Titania von Alberto Meda & Paolo Rizzato, die Itty Bitty von Outlook Zelco, die Sanitäter verteilten sich in alle Ecken und schalteten alle Lampen an – und erst in diesem Moment, da sie umringt von den Helfern und im Lichte all ihrer Lampen mitten im Zimmer stand, wurde Marie bewusst, dass sie nackt war.
Mit derselben Entschlossenheit, die sich nicht als übertriebene Eile äußerte, sondern durch präzise und methodische, genau aufeinander abgestimmte Handgriffe, entkleideten die Sanitäter den auf dem Boden liegenden Jean-Christophe de G., sie hoben ihn hoch, um ihm sein Jackett abzustreifen und sein Hemd aufzuknöpfen, rissen an den Hemdschößen, zerrten am Stoff, rissen die Knöpfe heraus, die sich nicht sofort öffnen ließen, und legten seinen Brustkorb frei, während der Notarzt ihn bereits mit seinem Stethoskop abhorchte. Ein Sanitäter, der am Kopf des Kranken kniete, nahm den Blutdruck, er hatte ihm die Manschette um den Arm gelegt und presste auf den Blasebalg des Blutdruckmessgeräts, stellte fest, dass der Blutdruck sehr schwach, sogar kaum mehr messbar, quasi nicht mehr existent war, wie der Puls an der Halsschlagader. Er musste dringend beatmet werden, man legte ihm eine durchsichtige Maske über den Kopf, die an eine Sauerstoffflasche angeschlossen war, und drehte den Durchfluss auf. Ein dritter Helfer, der auf dem Boden neben der Stelle kniete, wo immer noch die kleinen Grappagläser standen, hatte am Bettende einen Koffer mit medizinischem Gerät geöffnet und bereitete eine Infusion vor. Er hob den leblosen Arm Jean-Christophe de G.s an und desinfizierte gründlich die Ellenbeuge mit Alkohol, machte mit Fingerdruck sehr schnell eine Vene ausfindig, in die er stechen konnte, zog den Stauschlauch fest um den Arm, entfernte die Kappe der Kanüle und stach von unten nach oben in flachem Winkel hinein. Dann riss er mit einem Geräusch, das klang, als würde man einen Klettverschluss aufreißen, ein großes Heftpflaster von der Schutzfolie ab und befestigte damit provisorisch die Kanüle auf der Haut. Überall im Zimmer standen geöffnete Koffer mit medizinischem Material herum, aus denen Spritzen, Gummischläuche und vakuumverpackte Hilfsmittel in Plastikbeuteln ragten. Der Notarzt, der auf Knien auf dem Parkett kauerte, hatte damit begonnen, den Brustkorb Jean-Christophe de G.s mit einem übelriechenden, durchsichtigen, wässrigen Kontaktgel einzureiben, das er wie auf einem Butterbrot mit beiden Händen auf der Brust verschmierte, damit es in die Haut
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