Die Wahrheit über Marie - Roman
einziehen konnte und die Epidermis geschmeidig und die Brusthaare weich machte, holte dann einen kleinen, blauen, schlichten Wegwerfrasierer aus seiner Plastikverpackung, einen dieser fiesen, kleinen, dünnen Wegwerfrasierer, deren Schaft man nie richtig festhalten kann, und fing an, den Brustkorb in groben Zügen zu rasieren, in zwei, drei eiligen Bewegungen, von oben nach unten, ohne Rücksicht auf die Haut, die sich aufschürfte, eher war es ein Abräumen als ein Rasieren, am Schluss hielt er in der Höhle des Brustbeins inne, als wollte er dort noch so eine Art spaßiges Komma setzen, bevor er die Melasse der verklebten Brusthaare von der Klinge wischte und hastig ein Netz von Elektroden auf der geröteten und gereizten Haut befestigte. Jean-Christophe de G. lag mitten im Zimmer, um ihn herum ein Schwarm umherhuschender, undeutlicher weißer Gestalten, die sich an ihm zu schaffen machten, sein weißer Oberkörper hob sich im Licht einer 400-Watt-Halogenlampe grell von den anderen ab, einer der Sanitäter hatte sie in aller Eile aus dem Nebenraum herbeigeschafft, da das Licht im Schlafzimmer bei weitem nicht ausreichte, Maries gesammelte Designerlampen, auch wenn sie alle eingeschaltet waren, gaben nur gedämpftes Boudoirlicht ab. In seinem weißen kurzärmeligen Kasack stand ein Sanitäter am Kopf des leblosen Körpers und hielt die Lampe fest an ihrem Gestell, den gewaltsam nach vorne gebogenen Halogenkopf auf den mit Elektroden übersäten bleichen Oberkörper gerichtet, das Schlafzimmer sah aus wie ein Operationssaal.
Marie war ins Badezimmer gegangen, um sich rasch ein T-Shirt überzuziehen, lief dann beunruhigt im Schlafzimmer auf und ab, in jenem winzigen Bereich, der ihr noch geblieben, noch nicht von den Helfern in Beschlag genommen war. Ihr war unklar, wo sie sich hinsetzen, wo sich aufhalten sollte, sie war zum Fenster gegangen und hatte die Fensterflügel geschlossen, damit der Regen nicht weiter ins Schlafzimmer fallen konnte. Sie hatte es aufgegeben, den Arzt um Auskunft zu bitten, es hatte keinen Sinn, es war unübersehbar, wie ernst es um Jean-Christophe de G. stand. Die Sanitäter, die einen Kreis um seinen Körper gebildet hatten, schenkten ihr sowieso keine Aufmerksamkeit, schweigend blickten sie auf die Linien des Elektrokardiogramms auf dem winzigen, hell leuchtenden Monitor in einem der offen stehenden Koffer am Kopf des Kranken, wechselten untereinander nur einige wenige Worte im Flüsterton, gelegentlich erhob sich einer, um eine präzise Aufgabe zu erfüllen, um ein fehlendes Instrument zu holen oder etwas zusätzlich in die Infusion zu spritzen. Plötzlich nahm Marie eine ungewöhnlich heftige Bewegung wahr, die wie eine Welle der Erregung und Nervosität über die Rücken der Helfer lief, und sofort beschleunigten alle ihre Handgriffe, die wogenden Bewegungen der Schultern, das Ineinander der Hände, die sich über dem leblosen Oberkörper zu schaffen machten, waren sichere Zeichen, dass sein Zustand sich abrupt verschlechtert hatte. Mit einer Geste höchster Dringlichkeit richtete sich der Notarzt auf und schlug mit der Faust fest auf das Brustbein, packte dann eilig zwei große, runde Leiterplatten, die durch Kabel mit einem schwarzen, zwischen seinen Beinen klemmenden Batterieblock verbunden waren, auf die nackte, mit Elektroden bedeckte Haut, presste die eine Leiterplatte auf die obere Partie des Brustbeins, die andere seitlich gegen die Rippen. Ohne eine Sekunde zu verlieren, wies er die anderen an, ab jetzt jeden Kontakt mit dem Körper zu vermeiden, vergewisserte sich nochmals, dass niemand ihn berührte, und nahm eine ventrikuläre Defibrillation vor. Der heftige Stromschlag ließ den Brustkorb vom Fußboden hochschnellen, der Schlag fuhr von oben nach unten durch den Herzmuskel, dann fiel der Körper wieder auf den Boden zurück und blieb dort leblos liegen, und Marie begriff, dass das Herz nicht mehr schlug. Marie näherte sich den Sanitätern und betrachtete den entblößten Körper und das unter der Sauerstoffmaske verschwundene Gesicht, das weiße, mit Elektroden übersäte leblose Fleisch, wie von einem Fisch, Fleisch eines Kabeljaus oder einer Rotbarbe, und Marie musste unwillkürlich daran denken, dass sie diesen leblosen Körper noch vor weniger als einer Stunde umarmt hatte, in diesem Zimmer, an fast derselben Stelle, diesen entblößten, enteigneten, zum Objekt erniedrigten und medikamentierten Körper, diesen rasierten, an den Tropf gehängten und beatmeten Körper
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