Die Wahrheit über Marie - Roman

einfache Waschlappen, auf jedem Auge einen. Ich war mir nicht sicher, ob er uns bemerkt hatte, eine Zeit lang reagierte er nicht, aber dann zog er, ohne sich aufzurichten, immer noch auf dem Rücken liegend, die Kompressen von den Augen, erst die eine, dann die andere, und schaute auf uns, betrachtete uns schweigend. Sein Gesicht war schwarz vom Ruß, seine Kleider, sein Hemd, alles war schwarz – was das Hemd betrifft, war es ursprünglich nicht schwarz gewesen, hatte sich aber derart mit Ruß und Rauch vollgesogen, dass es jetzt schwarz geworden war. Wortlos drehte er sich und setzte sich auf, sah uns mit leerem Blick an. Seine Augen waren winzig, halb geschlossen, gerötet, entzündet, selbst seine Wimpern waren teilweise versengt und die Brusthaare verschmort. Nachdem er eine längere Weile geschwiegen hatte, fragte er mit kräftiger, ernst klingender, aber auch zittriger Stimme, die nur schlecht sein Gefühl verbarg, ob wir seiner Tochter begegnet wären, sie sei mit den geretteten Pferden weggegangen, um sie auf ein Feld zu bringen, das sie in der Gegend von La Guardia besaßen. Marie verneinte, wir waren niemandem begegnet. Er erhob sich nun schwerfällig, machte einen Schritt nach vorne, niedergeschlagen, zusammengefallen, und nachdem er ohne ein Wort Marie umarmt hatte, sagte er, es sei eine Katastrophe, drei Pferde hätten es nicht überlebt, und ein viertes hätte schwerste Verbrennungen, man müsse es wahrscheinlich erschießen, und dann, einer im Arm des anderen, fingen sie beide an zu weinen, Tränen flossen in weißlichen Schlieren über die schwarzen Wangen von Peppino, der sie mit seinen großen rußgeschwärzten Händen ungeschickt wegzuwischen suchte, was nichts half, nur noch neues Schwarz dem Schwarz hinzufügte.
    Zurück auf Rivercina, haben wir uns schlafen gelegt. Das Feuer hatte einen großen Teil des Gartens zerstört, aber das Haus war verschont geblieben. Ich lag mit offenen Augen still im Bett meines Schlafzimmers und hörte über mir Marie, ich hörte ihre Schritte auf dem Fußboden ein Stockwerk höher, ich hörte das charakteristische leise Knarren der Tür des Kleiderschranks, wenn sie geöffnet wurde, und ich wusste, dass sie sich jetzt ein T-Shirt zum Schlafen aussuchte, aber dann hörte ich, wie sie das Zimmer verließ, hörte ihre Schritte auf dem Flur, glaubte zuerst, sie würde ins Badezimmer gehen, aber sie ging weiter, begann die Treppe herunterzusteigen, Marie kam die Treppe herunter, ins Erdgeschoss, und ich hörte, wie sie durch das Wohnzimmer ging, ich hörte die sich nähernden Schritte, und ich sah, wie sich meine Schlafzimmertür öffnete und Marie vor mir in der Dunkelheit erschien, als habe sie sich aus dem Reich meiner Träume verabschiedet, um hier in Fleisch und Blut in meiner Wirklichkeit zu erscheinen, als habe sie den Limbus meiner Phantasie verlassen, wo ich mir gerade vorstellte, was sie tat, denn jetzt stand sie hier vor mir als Wirklichkeit aus Fleisch und Blut. Marie durchquerte barfuß das Zimmer und schlüpfte zu mir ins Bett, schmiegte sich an mich. Ich spürte ihre warme Haut an meinem Körper. Der Tag hatte noch nicht richtig begonnen auf Rivercina, und wir drückten uns aneinander im Bett, umschlangen uns im Halbdunkel, um unserer Anspannung Herr zu werden, die letzte Distanz, die uns noch trennte, schmolz dahin, und wir liebten uns, wir haben uns sanft geliebt im morgendlichen Grau des Schlafzimmers – und deine Haut und dein Haar, Liebling, rochen noch stark nach Feuer.

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    Titel der Originalausgabe
    LA VÉRITÉ SUR MARIE
    © 2009 by Les Éditions de Minuit, Paris

    Die Übersetzung dieses Werkes wurde gefördert durch
    die Communauté française de Belgique.
    Avec le soutien de la Communauté française de Belgique.
    Deutsche Erstausgabe
    © der deutschen Ausgabe
    Frankfurter Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt am Main 2010
    Alle Rechte vorbehalten
    Herstellung und Schutzumschlaggestaltung:
    Laura J Gerlach, Frankfurt am Main
    Umschlagfoto: Mel Curtis, Photodisc/Getty Images
    E-Book-Erstellung: psb, Berlin
    ISBN: 978-3-627-02167-2
    www.frankfurter-verlagsanstalt.de