Die Wahrheit über Marie - Roman
ließ sie ihrer ganzen angestauten Panik freien Lauf und gab einen Schwall konfuser und unpräziser Erklärungen von sich, Marie, aufgewühlt, verloren und ratlos, wie sie war, hörte nicht auf den Mann am Telefon, der sie zu beruhigen versuchte, ihr immer dieselben knappen zwei oder drei Fragen stellte, die einfache und klare Antworten erfordert hätten – Name, Adresse, Art der Krankheit –, Marie ertrug es nicht, dass man ihr Fragen stellte, Marie hatte es schon immer gehasst, dass man ihr Fragen stellte, Marie hörte nicht zu, gab keine Antworten, sagte nicht ihren Namen und nicht ihre Adresse, sie redete mit verstörter Stimme ins Leere hinein, erklärte umständlich, dass er sich schon im Restaurant unwohl gefühlt habe, ein Schmerz in der Schulter, aber das habe nur einen kurzen Moment gedauert und sei gleich vorbeigegangen, daran gebe es keinen Zweifel – der Telefonist musste sie unterbrechen, um sie erneut, diesmal schroffer, nach ihrer Adresse zu fragen, »Ihre Adresse, Madame, geben Sie mir Ihre Adresse, ohne Ihre Adresse können wir nichts unternehmen« –, und dann war er es, Jean-Christophe de G., der, mit erloschenen Augen und kraftlosen, weichen Lippen, kreideweiß und schweißbedeckt auf dem Rücken liegend, Marie voller Unruhe anblickte und zu erraten versuchte, was hier vor sich ging, und dann, als er ihr die Antwort auf seine Frage von den Augen abgelesen und die Situation verstanden hatte, ihr den Telefonhörer aus der Hand nahm und dem Telefonisten die Adresse durchgab: »2, Rue de La Vrillière«, er sagte es in einem Zug, als ginge es darum, ein Taxi für den Heimweg zu bestellen, reichte dann erschöpft von der Anstrengung Marie wieder das Telefon zurück und fiel benommen zur Seite. Der Mann am Telefon erklärte nun Marie, dass er sofort eine Ambulanz schicken werde, wies sie mit teilnahmsloser, monotoner Stimme an, im Falle eines Herzstillstands eine Herzmassage und eine Mund-zu-Mund-Beatmung vorzunehmen. Das Gewitter hatte nicht nachgelassen, helle Blitze ließen in regelmäßigen Abständen – blendend, grell erleuchtend – für kurze Momente die Umrisse des Zimmers in einem geisterhaften weißen Licht erstarren. Marie hatte sich rittlings auf den bekleideten Körper Jean-Christophe de G.s gesetzt und damit begonnen, mit übereinandergelegten Händen, ausgestreckten Armen und völlig zerzausten Haaren, unbeholfen und außer sich, mit aller Kraft auf sein Brustbein zu drücken, auf seinen Brustkorb zu schlagen, dann, als ihre Bemühungen keinen Erfolg zeigten, beugte sie sich über ihn, um ihn zu schütteln und zu umklammern, um ihn festzuhalten und zu umarmen, sie strich mit ihren Händen über sein Gesicht, versuchte, ihm etwas von ihrer Wärme zu geben, drückte ihre Lippen auf seine, bohrte ihre Zunge in seinen Mund, um ihm Luft einzuhauchen, als wollte sie das Versagen ihrer unbeholfenen Rettungsversuche durch diese ungestüme und wütende Behandlung wettmachen, die dem Unglücklichen mit Sicherheit weniger Sauerstoff zuführte, als dass sie ihm ein heftiges Gefühl von Energie und Leben vermittelte. Denn es war wie ein lebensspendender Atem, den Marie dem bewusstlosen Körper Jean-Christophe de G.s zu geben versuchte, während sie ihm irgendwie Luft in den Mund blies und ihn fest in ihre Arme schloss, dort auf dem Boden ihres Schlafzimmers in einer langen Umarmung, in der sie spürte, wie der Tod an ihrer nackten Haut Schritt für Schritt an Terrain gewann – die ergreifende Nacktheit des Körpers von Marie im Kampf mit dem Tod.
Aus weiter Ferne vernahm Marie die Sirene eines Krankenwagens und stand auf, um ans Fenster zu eilen, patschte barfuß durch Wasserlachen, die sich durch den Regen auf dem Parkett vor dem offenen Fenster gebildet hatten. Marie stand nackt am Fenster, gleichgültig gegenüber Wind und Wetter, und wartete auf die Ankunft des Krankenwagens, der die Rue Croix-des-Petits-Champs hochfuhr, sie erkannte erste Schimmer des Blaulichts, das sich mit dem anschwellenden Geräusch der sich nähernden Sirene vermischte, und es war nicht eines, es waren zwei Rettungsfahrzeuge, die plötzlich mit kreisenden Blaulichtern an der Ecke der Rue de La Vrillière auftauchten und im prasselnden Regen blinkten, ein großer weißer Krankenwagen der SAMU und ein Notarztwagen, ein Kombi, der direkt vor dem Haus auf das Trottoir fuhr und dort hielt. Zwei Gestalten stiegen aus einem der Fahrzeuge, während die Rettungsleute der SAMU die Wagentüren zuschlugen und mit eingezogenen
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