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Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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hatte, ein Gefühl, das noch wuchs und sogar angestachelt wurde durch eine irrationale und heftige Empfindung, die über mich kam, als ich die Stimme von Marie erkannte – sofort waren diese Befangenheit, diese Beschämung, dieses Schuldgefühl da. Denn in dem Moment, in dem ich die Stimme Maries wiedererkannte, war mein Blick auf den Körper einer jungen Frau gerichtet, die bei mir in meinem Zimmer schlief, ich sah ihren im Halbdunkel liegenden reglosen Körper, das einzige Kleidungsstück, das sie trug, war ein winziger Slip aus blassblauer Seide. Ich betrachtete ihre nackte Flanke, die Linie ihrer Hüfte. Ich betrachtete Marie, ohne zu verstehen (Marie, auch sie hieß Marie), und in einer Anwandlung von Schwindel und Taumel ahnte ich plötzlich etwas vom Ausmaß der Verwirrung, in der ich die letzten Stunden dieser Nacht erleben sollte. Sicher konnte ich klar zwischen Marie und Marie unterscheiden – Marie war nicht Marie –, aber ich hatte plötzlich die Eingebung, dass es mir nicht gelingen würde, mich in zwei Hälften aufzuteilen, um gleichzeitig derjenige zu sein, der ich für jene Marie war, die in meinem Bett lag, und derjenige, der ich für Marie war – ihre Liebe (auch wenn wir, seitdem ich nach unserer Rückkehr aus Japan in die kleine Zweizimmerwohnung in der Rue des Filles-Saint-Thomas gezogen war, nicht mehr zusammenwohnten).
    Um halb drei Uhr morgens verließ ich die kleine Zweizimmerwohnung in der Rue des Filles-Saint-Thomas, um zu Marie zu gehen. Draußen war der Himmel dunkel, schwarz, riesig, unsichtbar, und vom Horizont nichts war zu sehen als der ununterbrochen vor dem gelblichen Licht der Straßenlaternen fadendick herunterfallende Regen. Ich hatte mich in den Wolkenbruch gestürzt, den Kragen meines Jacketts hochgeschlagen und mich, weil der Regen mir in die Augen spritzte, in geduckter Haltung in Richtung der Place des Victoires aufgemacht. Aus der Ferne kam in regelmäßigen Abständen Donnergrollen, Regenwasser staute sich sprudelnd über den Gitterrosten der verstopften Kanalisation, kleine reißende städtische Sturzbäche rasten wild die Abflussrinnen entlang. Ich erreichte die Place de la Bourse, die in völliger Dunkelheit still und verlassen dalag, nur das angestrahlte hohe Säulenportal des Palais Brongniart ragte aus der Finsternis. Der Platz war menschenleer, dichter Regen platschte in eine riesige Wasserlache, die schwarz war und aufgewühlt vom Regenschwall und zerfurcht vom Wind, der über ihre Oberfläche stürmte. Ich konnte keine zehn Meter weit sehen, wusste nicht, wohin ich ging, zog in einer lächerlichen Geste des Schutzes mein Jackett enger um mich. Ich hatte die falsche Richtung genommen, musste wieder zurückrennen, hätte auf dem rutschigen Trottoir beinahe das Gleichgewicht verloren. Auf dem nassen Asphalt spiegelte sich hier und da das Licht der Laternen, und von Zeit zu Zeit sah ich durch den wässrigen Nebel, den der Regen vor meinen Augen bildete, die Irrlichter eines in einiger Entfernung vorbeifahrenden Autos, das sich langsam, wie in Zeitlupe durch die Wassermassen kämpfte, alle Scheinwerfer aufgeblendet in dieser Sintflut.
    Ich rannte immer noch, als ich in Sichtweite der Place des Victoires kam und plötzlich die Reihe alter Hausfassaden und die dreiköpfigen Straßenlaternen auftauchten, die im strömenden Regen funkelten, in der Mitte des Platzes ragte die mächtige Reiterstatue von Louis XIV empor, die vor dem Unwetter zu fliehen schien. Meine Unruhe wuchs sich zur Panik aus, als ich in die Rue de La Vrillière einbog und im Dunkel der Nacht die Blaulichter sah – genau vor dem Haus von Marie. Die letzten Meter legte ich mit schlotternden Knien zurück, durchnässt von Kopf bis Fuß, innerlich aufgewühlt, immer noch in Bewegung, außer Atem, mit heftig schlagendem Herzen, aber ich rannte nicht mehr, lief jetzt langsamer, widerstrebend, widerwillig, als würden meine Schritte stocken, als wollte ich nicht mehr weitergehen, ich befürchtete das Schlimmste, einen Unfall, einen nächtlichen Überfall, und als ich in dieser fürchterlichen Aufwallung von zugleich Angst und Liebe an Marie dachte, kam mir jene Nacht wieder ins Gedächtnis, in der uns eine Alarmsirene aus dem Schlaf hatte aufschrecken lassen, die laut durch die Rue de La Vrillière hallte. Wir waren nicht gleich aufgestanden, hatten zunächst geglaubt, es handele sich um eine dieser Autoalarmanlagen, die sich immer wieder grundlos mitten in der Nacht auslösen und die Ohren der Nachbarn

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