Die Wahrheit und andere Lügen
doch so jeder Beischlaf auch ein klein wenig Vergewaltigung. Wie dabei ein Kind entstehen konnte, blieb Henry ein Rätsel. Eher beiläufig brachte Betty die sexuelle Komponente mal auf den Punkt. »Wenn wir schon nicht verschmelzen, Henry, lass uns wenigstens verklumpen.«
Aber jetzt war es zu Ende. Die Trennung musste schnell und endgültig sein, keine Hoffnung durfte fortbestehen. Es musste endlich Gewissensruhe einkehren und Raum für Neues. Und ja, er würde sie vermissen. Sehr sogar. Aber erst nach der Trennung.
Dem Imbiss gegenüber entdeckte Henry eine Pfandleihe. »Liquidität sofort«war in die schussfeste Glastür geätzt. Ihm gefiel diese leere Versprechung. Henry aà die Bulette auf, leckte sich die Finger sauber und überquerte elastisch schwingend die StraÃe.
Summend schnappte die verriegelte Tür auf, hinter Panzerglasscheiben saÃen zwei bebrillte Männer und betasteten Schmuckstücke. Sie rochen sofort, dass er Geld hatte. Henry lieà sich ein Brillantkollier zeigen, es erschien ihm zu pompös, eine Trennung ist schlieÃlich kein Festakt. Eine Brosche war doch viel zu altmodisch, und Ohrringe? Eine grandiose Themaverfehlung! Gerade wollte er das Geschäft wieder verlassen, da fiel sein Blick auf eine Patek Phillipe. Ihre dezente Form gefiel ihm, sie war elegant und praktisch, und Betty liebte praktische Dinge. Zudem war die Uhr wie jedes Stück einer Pfandleihe mit einer Tragödie verbunden. Wer verkauft schon eine Uhr, wenn er nicht muss? Vielleicht waren die Motive des Vorbesitzers Not, Hass oder ein dunkles Geheimnis gewesen. Was auch immer diese Uhr hierhergebracht hatte, ihre Geschichte verlieh ihr Patina. Henry kaufte sie. Sollte Betty sie ihm ins Gesicht werfen, konnte er sie immer noch Martha zum Hochzeitstag schenken.
Der Nachmittag, vier Uhr. Die schönste Zeit des Tages, wenn es zu spät ist, Versäumtes nachzuholen, wenn das Licht weicher wird und die Eiswürfel im Glas schimmern. Man gönnt sich einen Longdrink anstelle des Mittagsschlafes, vergibt seinen Lastern, schreibt unsichtbare Briefe und eskortiert sich selbst aus diesem verschwendeten, sinnlos verlebten Tag.
Henry schlenderte durch die FuÃgängerzone mit ihren Geschäften und Cafés. Er hatte sich ein Basecap aufgesetzt und die groÃe, dunkle Brille, um wie ein Prominenter auszusehen, der nicht erkannt werden möchte. Aber niemand erkannte ihn. Wie all die anderen Tage hatte Henry das Gefühl, nichts zustande gebracht zu haben, und war unschlüssig, ob er sich dafür mit einem kurzen Besuch in einer Buchhandlung belohnen sollte. Aus den umliegenden Gebäuden strömten jetzt Menschen, die meisten von ihnen nach einem arbeitsreichen Achtstundentag. Sie hatten für einen lächerlich geringen Betrag geschuftet, pflichtbewusst und gründlich ihren Beitrag geleistet für Familie, Volk und Rente. Manchmal wünschte sich Henry, einer von ihnen zu sein, ein normales Leben zu führen, zu erleben, wie sich Feierabende anfühlen, und mit sich im Reinen zu sein.
Er betrat eine Buchhandlung. Auf dem Tisch gleich am Eingang sah er zwei seiner Romane, schön herausgestellt und auf einem Podest erhöht. Er signierte heimlich ein Exemplar und verlieà die Buchhandlung wieder. Er blieben immer noch drei Stunden. In einem menschenleeren Baumarkt fand er eine hölzerne Marderfalle und lieà sich deren Funktionsweise erklären. Die Falle war überraschend billig, über einen Meter lang und hatte Klappen an beiden Enden. Der Verkäufer zog die Falle aus dem riesigen Regal. »Das hier ist unser Marderhotel«, sagte er nicht ohne bescheidenen Stolz. Er lieà die Klappen auf- und zuschnappen. »Die Viecher checken ein und nie wieder aus.« Henry roch die Kleinstlebewesen, die seine gelbliche Verkäuferzunge besiedelten. Wie um alles in der Welt ertrug der arme Kerl die Monotonie seines Daseins zwischen all diesem fabrikneuen Gerümpel? Um keine weiteren Erklärungen einatmen zu müssen, floh er zur Kasse. Noch zwei Stunden.
In einem Passagenkino sah er einen koreanischen Film, in dem ein Mann fünfzehn Jahre lang in ein Zimmer eingesperrt wird, ohne zu erfahren, warum. Henry wunderte sich, dass ihm das noch nicht selbst passiert war. Er hatte zwei Kinokarten gekauft, eine für sich, eine für die Marderfalle. Wie ein Kindersarg lag sie auf dem Sitz neben ihm. Bevor der Film zu Ende war und das Licht anging,
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