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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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nahm Henry die Holzkiste und schlich aus dem Kino. Es war soweit.
    Gegen neunzehn Uhr fuhr Henry wieder auf der Landstraße Richtung Küste. Es dämmerte bereits. Kein Auto kam ihm entgegen, der Regen fiel in durchsichtigen Schnüren. Hinter einer stillgelegten Bushaltestelle bog er auf den sandigen Forstweg ab und rollte dann langsam mit abgeblendeten Scheinwerfern über die Betonplatten zu den Klippen.
    Der Regen verdampfte auf der warmen Erde, und Nebelschwaden stiegen auf. Von hohen Gräsern bedeckt, öffnete sich am Rand der Klippen ein Areal, das von Kiefern windgeschützt war. Alte Fundamente und verrostete Eisenstäbe ragten noch zwischen den Gräsern empor. Vielleicht hatte hier ein alter Bunker oder eine Wetterstation gestanden. Henry spürte, wie seine Handflächen nass wurden, sein Herz schlug heftiger. Sobald er Betty kommen sah, wollte er in ihr Auto steigen und ihr sofort alles sagen. Er schaute auf die Uhr, es war noch nicht acht. Es musste schnell gehen. Wie ein scharfes Schlachtermesser würde seine Botschaft sein, schmerzlos und mit sicherer Hand geführt. Vielleicht würde sie schreien und ihn schlagen, sicher würde sie weinen.
    Bettys grüner Subaru stand schon da. Nah an den Klippen wie immer. Henry schaltete das Licht aus und rollte von hinten an den Wagen heran. Er sah Bettys Silhouette hinter dem Steuer sitzen, von einem kleinen Licht am Rückspiegel beleuchtet, ihre rechte Hand hielt die Zigarette. Wahrscheinlich hörte sie wie immer laute Musik und hatte ihn noch nicht bemerkt. Sie muss endlich das verdammte Rauchen lassen, dachte er, vielleicht lässt sie es, wenn ich ihr die Uhr schenke.
    Als die Stoßstangen der Wagen sich berührten, gab es einen leichten Ruck. Henry gab nur ein wenig Gas, der Maserati schob den Subaru mühelos vorwärts, Henry sah kurz die Bremslichter aufleuchten, der Wagen kippte über den Rand der Klippe und verschwand.
    Eine Weile saß Henry reglos, den Motor ließ er laufen. Hoffentlich ist der Airbag nicht aufgegangen, dachte er, schloss die Augen und lehnte den Kopf an die lederne Stütze. Bestimmt schlägt sie jetzt gerade gegen die Scheiben und versucht, die Tür zu öffnen. Da unten ist es dunkel, das kalte Salzwasser wird ihr beim Sterben helfen. Vielleicht ist sie auch schon beim Aufprall auf das Wasser gestorben, das Kind in ihrem Bauch wird nichts merken, es weiß ja nicht, dass es gelebt hat, das arme Ding.
    Nach etwa zehn Minuten machte er die Augen wieder auf und schaltete den Motor ab. Er stieg aus, um nachzuschauen. Sofort durchnässte der Regen sein Hemd. Er stellte sich an den Rand der Klippen und blickte hinab. Die Steilwand fiel vertikal ab, der Wagen war direkt ins Wasser gefallen, ohne die Felswand zu berühren. Nichts war zu sehen, das Meer hatte den Wagen verschluckt, das schwarze, gleichgültige Meer. Dies wäre der geeignete Moment gewesen, hinterherzuspringen. Doch Henry spürte nichts außer dem kalten Regen und der Gewissheit, etwas Irreversibles getan zu haben. Er untersuchte die Front seines Autos. Vorn am Kennzeichen nicht mal eine Delle. Er wischte mit dem Daumen darüber, Regenwasser rann ihm in die Augen. Ein Verbrecher war er nun, ein Mörder. Genau, wie er es vorhergesehen hatte.
    Auf dem Heimweg steuerte er eine Tankstelle an und kaufte eine Packung Kaugummi gegen den schlechten Geschmack im Mund. Er bezahlte in bar bei einer schwergewichtigen Kassiererin, die wie ein Albinokaninchen aussah, dem die Flucht aus dem Labor gelungen war. Dabei erblickte er sich selbst im Spähspiegel über der Kasse. Da schau her, dachte er, ich seh aus wie immer. Spätestens morgen Nachmittag würde irgendwer die Polizei verständigen. Wer würde das sein? – wahrscheinlich Moreany. Der Gute machte sich immer so schnell Sorgen, und schlimme Dinge weiß man ja sofort. Dann würde das Warten beginnen, das Hoffen und Gedankenmachen – schließlich kommt es genau wie befürchtet oder noch schlimmer. Das Ärgste, da war sich Henry sicher, wird das Warten selbst sein.
    Wahrscheinlich werden Eltern und besorgte Freunde zuerst suchen, einen Schlüssel organisieren und in Bettys Wohnung gehen. Dort würde für jeden sichtbar das Ultraschallbild seines Kindes an der Pinnwand neben dem Kühlschrank hängen – aber nein, das hängt eine schwangere Frau nicht an den Kühlschrank, so was trägt sie doch mit sich herum, in der

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