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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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beweisen? Und wer würde sie jemals finden?
    Henry zog sich einigermaßen beruhigt die Hausschuhe an, nahm die Scotch-Flasche und schlich leise in den Weinkeller, um sich eine Zigarre zu genehmigen. Nicht, dass es etwas zu feiern gab, aber Tabak ist gut gegen schlechte Gedanken. Er setzte sich auf den Holzschemel unter der nackten Glühbirne und rauchte die ganze Zigarre im Keller. Wie damals, als er die erste Fehlfarbe aus dem Nachlass seines Vaters geraucht hatte.
    In der verhängnisvollen Nacht, die psychologisch gesehen das Ende seiner Kindheit markierte, war Henrys Vater betrunken die Treppe heraufgepoltert, um Henry zu bestrafen. Henry hatte sich unter dem Bett versteckt, seine von Urin durchnässte Pyjamahose klebte an den Beinen. Der Vater kam ins Zimmer, schnaufend wie ein Ochse, sein säuerlicher Bieratem verpestete die Luft. Er machte nicht mal das Licht an, sondern griff unter das Bett und zog ihn hervor. Henry fühlte noch den schmerzenden Griff, diese unerhörte Kraft, mit der ihm der Alte am Pyjamaoberteil packte und dann an der Hose betastete.
    Â»Hast du wieder alles vollgepisst, Junior?!«
    Klar hatte er. Jede Nacht passierte das. Der Vater zerrte ihn aus dem Zimmer zur Treppe. Henry hielt sich am Geländer fest und schrie nach seiner Mama. Das machte den Alten noch wütender, er zerrte, Henry klammerte sich an den Treppenpfosten – dann riss der Stoff des Pyjamas, der schwere Mann polterte knackend die Stufen hinab, bis er unten war. Da blieb er liegen und stand nie wieder auf. In einem schwarzen Plastiksack trug man ihn aus dem Haus, die ganze Nachbarschaft schaute zu. Was danach geschah, sollte noch viel schlimmer werden.
    Heute, so viele Jahre später, kam Henry komplett betrunken aus dem Weinkeller, stolperte über den schlafenden Hund und fiel seitlich aufs Gesicht. Er sah anmutig tanzende Lichter.
    Es klingelte an der Tür. Poncho sprang auf, begann zu bellen. Henry schaut auf die Uhr, es war fast elf. Die Polizei, war sein erster Gedanke – konnte sie so schnell sein? Die moderne Kriminalistik vollbringt ja bekanntlich wahre Wunderdinge, aber wie zum Teufel hatten die alles so schnell rausgekriegt? Vielleicht war es doch Bettys Notruf aus dem Auto gewesen. Sie hatte nicht ihn , sondern die Polizei angerufen. Das war ihre letzte Rache, jetzt war das Haus bereits umstellt, Scharfschützen lagen in den Feldern, er sollte besser liegen bleiben, bis sie ins Haus kamen.
    Henry blieb also noch ein Weilchen liegen und sah, wie der brennende Zigarrenstumpen ein kleines Loch in den Holzboden brannte, aber das war nicht mehr wichtig. Ihm fiel Dostojewskis grandiose Beschreibung der letzten Minute eines zum Tode Verurteilten vor dem Erschießungskommando ein. Keine Minute würde jemals wieder so intensiv sein. An sonsten mochte er Dostojewski nicht, weil er so ge schwätzig war und seine Geschichten immer so umständlich verschachtelte.
    Es klingelte abermals.
    Diesmal energisch, lang–lang–kurz, wie ein Morsezeichen. Wieder sah Henry in die Zukunft. Gleich würde Martha die Treppe herunterkommen. Schreckliche Vorstellung, wie sie gleich mit ansehen müsste, wie man ihm die Handschellen anlegte, wie man ihm seine Rechte vorlas, dachte er. Wahr scheinlich wird sie meine Zahnbürste und Wäsche zum Wechseln einpacken. Dabei wird sie sicher weinen. Warum hast du das getan?, wird sie mich fragen. Ich muss mir eine gute Antwort überlegen, dachte Henry und stand auf, um die Tür zum Unvermeidlichen zu öffnen.
    Draußen im Regen stand Betty.
    Sie war allein. Blass und ernst war sie. Unter dem Regenmantel trug sie das Pepitakostüm, das ihr so fabelhaft stand. Die blonden Haare hatte sie sich hochgesteckt, sicher weil sie wusste, wie sehr er das mochte. Sie sah hinreißend gesund aus und schien überhaupt nicht böse auf ihn zu sein.
    Â»Henry, deine Frau weiß alles«, sagte sie.
    Es war ein kompliziertes Gefühl. Zum einen Freude. Ja, er freute sich, dass Martha Bescheid wusste und Betty nicht verletzt war. Kein Kratzer war auf ihrer makellosen Haut zu sehen, nicht mal erkältet hatte sie sich im eisigen Wasser, aber das konnte ja noch kommen. Zum anderen war er nicht wenig verwundert. Wie konnte Betty sich aus dem sinkenden Subaru befreien, ohne sich die Frisur zu ruinieren? Sie musste irgendwie nach Hause gekommen sein, um sich noch umzuziehen. Aber warum erschien sie jetzt bestens gelaunt bei ihm, statt zur Polizei

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