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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Handtasche zum Beispiel. Vielleicht hatte Betty der Frauenärztin verraten, wer der Vater ist. Aber warum sollte sie? Es tat doch nichts zur Sache. Bei der Gelegenheit fiel ihm ein, dass er Betty immer mal fragen wollte, ob sie Tagebuch führt. Führt nicht jede Frau zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens Tagebuch? Betty bestimmt auch. Hätte er mal fragen sollen.
    Henry war beinahe wieder an der Tür, als er eine Stimme hörte.
    Â»Hallo … Sie?«
    Henry blieb stehen, drehte sich um. Das Riesenkaninchen an der Kasse winkte mit der Packung. Er hatte die Kaugummis vergessen.
    Henry ging zurück, nahm die Packung Kaugummis und stieg ins Auto. Die Frau würde sich an ihn erinnern. Früher oder später würde die Polizei bei ihm erscheinen. Er war vorbereitet und würde jede Prüfung bestehen, denn er hatte sich nichts vorzuwerfen. Er hatte getan, was getan werden musste. Er fuhr nach Hause, um Martha den Kamillentee zu kochen.
    In Marthas Zimmer brannte Licht. Sie war also schon nach oben gegangen, um den nächtlichen Schreibdämon zu empfangen. Henry stellte die Marderfalle leise am Treppenabsatz ab und schlich in die Küche, um Teewasser aufzusetzen und den Hund zu füttern. Die riesige Küche war aufgeräumt wie immer, es roch nach Fett auf Metall, Poncho wedelte mit dem Schwanz wie immer. Es war vollkommen still wie immer. Alles war wie immer. Dann fiel ihm das Telefon ein. Er versuchte sich zu erinnern, ob er die kleine SIM-Karte herausgenommen hatte. Er war gedankenlos gewesen.
    Was, wenn das Telefon noch funktionierte und Betty ihn in höchster Not angerufen hatte? Wen sonst als ihn? Sie konnte doch nicht wissen, dass er der dunkle Schatten war, der sie von hinten über die Klippe schob, wer ahnt denn auch so was? Das Telefon im Mülleimer neben dem Parkscheinautomaten wird geklingelt haben, er hatte es nicht ausgeschaltet. Vielleicht hat jemand das Klingeln gehört und geantwortet – aber nein, unter Wasser telefoniert man nicht. Kein Mensch kann unter Wasser sprechen, es dringt einem doch kalt in Mund und Nase. Man will leben, man zappelt, man stößt Blasen aus, man kämpft und schlägt sich die Hände blutig – kein vernünftiger Mensch telefoniert in einem solchen Augenblick. Oder?
    Henry stützte sich mit einer Hand auf den Tresen der Kücheninsel und trank den Scotch direkt aus der Flasche. Die Zigaretten. Betty schnippte immer die brennenden Stummel in die Natur. Wie oft hatte er diese Dinger verärgert ausgetreten und so diverse Waldbrände verhindert. Zigarettenstummel sammeln ja Forensiker bekanntlich zuerst ein, jedes Kind kennt das aus dem Fernsehen. Bettys Speichel daran war eine eindeutige Spur. Und dann war da noch seine ausgekotzte Lasagne voll mit Mörder-DNA. Ein halbes Kilo davon. Ebenso gut hätte er ein Schild mit seinem Foto und seiner Telefonnummer an die Bäume nageln können. Man musste die Kotze nur zuordnen. Sollte er nicht besser gleich einen Anwalt anrufen? Aber was sollte er dem denn sagen? Dass er ohne Plan seine Geliebte umgebracht hatte? Dass es ganz ohne Absicht geschehen war, dass er einfach nur vergessen hatte, zu bremsen?
    Keiner würde ihm das glauben. Nein, wenn überhaupt, musste er zuerst mit Martha sprechen, ihr alles erklären, für sie hatte er es schließlich getan. Martha würde ihn bestimmt verstehen und ihm vergeben. Martha war niemals böse auf ihn. Obwohl – dieses Mal vielleicht doch. Aber denunzieren würde sie ihn gewiss nicht. Die Ärmste, wer sollte dann für sie sorgen, wenn er nicht mehr da war?
    Einer Eingebung folgend, trat Henry ans Fenster. Es regnete immer noch. Nur ich weiß, was ich getan habe, dachte er . Wer sollte ihn überhaupt verdächtigen? Und wer sollte ausgerechnet bei den Klippen suchen? Aussagekräftige Reifenspuren waren garantiert keine mehr zu finden. Das war gut. Der Regen und das Meer waren seine Verbündeten, dabei konnte er beide noch nie leiden.
    Henry entspannte sich. Genau genommen konnte es ebenso gut ein Unfall gewesen sein, nein, es war sogar ein Unfall. Denn das alles wäre auch ohne ihn passiert, es war allein Bettys Fehler. Eine fatale Unachtsamkeit. Sie hatte direkt am Rand der Klippen gehalten, den Gang nicht eingelegt, nicht mal die Handbremse gezogen – gedankenlos, wie Frauen nun mal sind. Sie war einfach ein wenig zu weit gerollt. Wer sollte etwas anderes denken, wer konnte das Gegenteil

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