Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
Vom Netzwerk:
zu gehen? Rätselhaft. Nun, für all das gab es sicher eine natürliche Erklärung.
    Â»Hast du getrunken, Henry?«
    Â»Ich? Ja.«
    Â»Du, ich hab dich bestimmt fünfzigmal angerufen, aber du bist einfach nicht ans Telefon gegangen.«
    Da war kein Vorwurf in ihrer Stimme, wie Henry feststellte. Er hätte gewettet, dass sie ihm zumindest Vorwürfe machen würde, schließlich hatte er versucht, sie umzubringen. Stattdessen machte sie einen Schritt aus dem Regen auf ihn zu, küsste ihn auf den Mund. Ihr Kuss schmeckte nach Menthol. Es war das erste Mal, dass sie sein Haus betrat. Henry roch das Maiglöckchenparfüm, das er ihr geschenkt hatte. Selbst dafür hatte sie noch Zeit gefunden.
    Â»Es ist so dunkel hier. Hast du dir wehgetan, mein armer Schatz?«
    Â»Ich bin hingefallen.«
    Â»Du blutest. Hast du verstanden, was ich gesagt hab?«
    Â»Nein. Was hast du gesagt?«
    Â»Ich sagte: Martha war vorhin bei mir.«
    Â»Wer?«
    Â»Deine Frau.« Betty sprach nun wie zu einem Kind mit ihm. Henry mochte das nicht, aber jetzt war nicht der Moment für solche Geringfügigkeiten. »Sie wusste schon alles. Wieso verschweigst du mir das die ganze Zeit?«
    Henry hörte sich selbst atmen.
    Â»Was weiß Martha?«
    Betty lachte hell. »Spiel nicht den Dummen. Sie weiß von uns beiden. Alles. Die ganze Zeit.«
    Er überlegte, ob er zurück in den Keller gehen sollte, um nachzuschauen, ob er beim Rauchen eingeschlafen war.
    Â»Hast du’s ihr erzählt?«, fragte er.
    Â»Ich? Nein, du hast ihr alles gesagt.« Betty piekte ihm mit dem Zeigefinger an die Brust. Noch so was, das er überhaupt nicht mochte.
    Â»Sie hat mich besucht. Bei mir zu Hause. Es ist alles viel einfacher, als wir gedacht haben.«
    Â»Woher weiß sie, wo du wohnst?«
    Betty begann das Gespräch zu ermüden, sie zog sich den Regenmantel aus. »Also, das kann sie nur von dir wissen. Sie war traurig, sehr wütend und sehr besorgt um dich. Wir haben Tee getrunken zusammen, sie hat mir von deiner Schreibkrise erzählt. Wirklich, sie versteht dich, und sie hat dich lieb. Dann ist sie zu den Klippen gefahren.«
    Etwas Kaltes griff in Henrys Brust. Es brach zwischen seine Rippen hindurch und wühlte in ihm. Betty sah, wie er grau wurde.
    * * *
    Marthas Zimmer war aufgeräumt wie immer. Die Stehlampe brannte, ein weißer Bogen Papier war in die Maschine gespannt, der Papierkorb war leer. Ihr Bett war unberührt, ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Kissen, ihr Badeanzug lag neben dem Bett. Im Badezimmer war sie auch nicht. Henry riss das Fenster auf, unten stand Marthas weißer Saab im Regen. Die Scheinwerfer brannten, der Scheibenwischer bewegte sich auf und ab. Er rief laut ihren Namen, doch sie antwortete nicht.
    Als er die Treppe langsam nach unten ging, sah er Bettys Regenmantel auf der Marderfalle. Ihre schlanken Schuhe lagen daneben. In der Gästetoilette war es dunkel, die Tür stand offen, auch in der Küche brannte kein Licht. Henry folgte dem Geruch der Zigarette durch den holzgetäfelten Korridor zu seinem Atelier. Sie kam ihm lautlos aus dem Dunkel entgegen.
    Â»Was ist passiert, Henry?«
    Â»Sie ist weg. Martha ist weg.«
    Â» Wie weg? Einfach so?«
    Â»Weshalb bist du hergekommen?«
    Â»Martha und ich haben verabredet, die Autos wieder zu tauschen. Sie hat mich darum gebeten. Ist sie gar nicht wieder zurückgekommen?«
    Betty wollte an ihm vorbei aus dem dunklen Korridor. Er hielt sie fest.
    Â»Was machst du in meinem Atelier?«
    Â»Du tust mir weh! Ich hab Martha gesucht. Sie wird bestimmt gleich wiederkommen. Mach dir keine Sorgen.«
    Henry bemerkte, dass sie die Zigarette nicht mehr in der Hand hielt.
    Â»Worüber habt ihr gesprochen?«
    Â»Ãœber was wohl? Na, über dich natürlich. Wir haben bestimmt eine Stunde lang über dich gesprochen. Sie vergöttert dich. Dann hab ich ihr gesagt, wo wir uns immer treffen.«
    Henry presste noch fester zu.
    Â»Warum? Warum hast du das getan?«
    Betty wand sich unter seinem Griff. »Sie wollte zu dir. Deshalb ist sie zu den Klippen gefahren.«
    Er studierte ihr Gesicht. »Wie konnte sie die finden?«
    Â»Na, deswegen haben wir doch die Autos getauscht. Weil sie kein Navi hat. Sie hätte es im Leben nicht gefunden, verstehst du? Sag bloß, du warst nicht da.«
    Â»Gib mir eine Zigarette.«
    Â»Du warst doch da, oder?«
    Â»Ja, ich

Weitere Kostenlose Bücher