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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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war da. Gib mir eine Zigarette.«
    Betty zog eine aus der Schachtel, gab Henry Feuer. Seine Hände zitterten so stark, dass Betty sie festhalten musste. Ihr Blick fiel auf die Holzkiste an der Treppe, aber sie fragte nicht.
    Kein Zweifel, Martha war tot. Sie hatte im Wagen gesessen, als er ihn über die Klippen schob. Er hatte sein Leben zerstört und den einzigen Menschen getötet, der ihn jemals um seinetwillen geliebt hatte. Martha war weg und mit ihr das ganze, gute Leben. Die Bilder kamen zurück. Henry sah, wie sie lautlos schreiend gegen die Scheiben schlug, wie sie versuchte, die Tür zu öffnen und das entsetzlich kalte Wasser in ihre Lungen drang. Er sah Martha sterben.
    Während er Betty nach Hause fuhr, spürte Henry eine beginnende Taubheit in der rechten Gesichtshälfte. Sie breitete sich von der Augenbraue über die Schläfe zum Ohr aus.
    Â»Hast du ihr das mit dem Kind gesagt?«
    Â»Nein. Sie weiß nichts.«
    Â»Lüg mich nicht an, Betty!«
    Â»Warum sollte ich lügen?«
    Â»Hast du irgendwen angerufen, mit irgendwem gesprochen?«
    Â»Warum fragst du das? Wird sie denn nie mehr wiederkommen?«
    Betty saß seltsam starr neben ihm, die Finger mit den be malten Nägeln fest ineinander verklammert. Sie rauchte nicht, schaute ihn nicht an und stellte keine Fragen mehr, zumindest nicht hörbar. Henry schaute konzentriert auf die Straße vor sich. In Gedanken war er bereits wieder zu Hause, erschlug den Hund und leerte die Benzinkanister im ganzen Haus. Mit der verdammten Bohrinsel würde er anfangen, dann die Bücher. Die Flammen würden nicht lange brauchen. Dann die Holztreppe. Der Brand würde sich schnell nach oben ausbreiten, der verdammte Marder im Dach würde mit ihm verbrennen. Das kommt davon, wenn man sich in fremde Häuser einschleicht.
    Â»Sprich mit niemandem darüber, hörst du? Mit niemandem.«
    Dann stieg sie aus. Sie ging die fünfzig Schritte bis zu ihrer Wohnung und spürte Henrys Blick, der ihr folgte.
    Der Regen hatte nachgelassen, alle Fenster waren dunkel, als Henry zurückkehrte, nur oben in Marthas Zimmer brannte das Licht. Obwohl er wusste, dass er sie nicht finden würde, durchsuchte Henry das ganze Haus nach seiner Frau. Mit brennender Gewissheit, die bereits Phantomschmerz war, riss er Türen auf, rief ihren Namen, leuchtete mit einer Taschenlampe hinter Regale, in Schränke und Winkel, als sei es ein albernes Versteckspiel. Natürlich antwortete sie nicht auf sein Rufen, denn sie lag ja auf dem Grund des Meeres, aber die Vorstellung war einfach unerträglich, deshalb rief er noch ein Dutzend Mal.
    In seinem Atelier fand er Bettys erloschene Zigarette. Die Jalousien waren heruntergelassen, sie konnte nicht viel gesehen haben, nicht genug, um zu verstehen. Aber immerhin war sie auf Strümpfen in sein Atelier geschlichen, um zu spionieren.
    Er fuhr Marthas Saab in die Scheune. Er durchsuchte den Wagen, fand nur einen alten Holzlatschen, vergilbte Landkarten und leere Wasserflaschen. Der ganze Innenraum des Wagens roch noch nach Bettys Maiglöckchenparfüm. Der Hund folgte ihm hechelnd, als er mit Spaten und zwei Benzinkanistern aus der Scheune kam und in die Küche ging. Er wollte zuerst das Haus anzünden und sich dann in den Brunnen hinter der Kapelle stürzen. Er stellte die Kanister ab, legte den scharfen Spaten auf den Tresen und trank den Rest Whisky aus der Flasche. Sobald er betrunken genug war, wollte er Poncho damit köpfen. So viel er auch trank, er blieb nüchtern. Das Zeug schmeckt wie Whisky, muss aber Wasser sein, sonst wäre ich besoffen, dachte er. Er nahm die Gummihandschuhe aus der Spüle. So, bringen wir’s hinter uns. Komm her, du Drecksköter.
    Der Hund hatte sich fortgeschlichen. Henry taumelte durch das Haus, stieß sich das Schienbein und änderte dann seinen Plan.
    Er griff sich Marthas grünen Parka, nahm die getragene Wäsche aus dem Wäschekorb und stopfte Unterwäsche, Sandalen, Hemd und Hose in eine Plastiktüte. Dann legte er vorsichtig ihr Klappfahrrad in den Kofferraum seines Maserati und fuhr los. Im Rückspiegel konnte er zwei gelb leuchtende Punkte sehen. Es waren die Augen des Hundes, der ihm nachschaute. Das Tier wusste alles.
    Vier Uhr morgens, eine Stunde vor Sonnenaufgang. Die schmale Straße zur Bucht führte durch den Ort. Helles Mondlicht schimmerte auf den Dächern, als Henry den Wagen langsam und

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