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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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mit ausgeschalteten Scheinwerfern durch den Ort rollen ließ. Eine Katze überquerte vor ihm die Straße. Sie trug die Beute der Nacht im Maul.
    Schlaflos wie immer bei Vollmond stand Obradin rauchend am Fenster, als der Maserati unter seinem Fenster entlangglitt. Er hörte das vertraute Blubbern des Motors und erkannte die geschwungene Form der Karosserie. Ohne gute Gründe fährt kein Mensch nachts ohne Licht Richtung Hafen. Wenn Henry nicht die Absicht hatte, den Wagen am Hafen nach Übersee einzuschiffen, musste er irgendwann den gleichen Weg zurückkommen. Im Bett an der Wand drehte sich seine Helga und streckte tastend die fleischige Hand nach ihm aus, ohne wach zu werden. Obradin holte sein russisches Nachtsichtgerät aus der Blechkiste im Schrank, öffnete eine neue Packung Zigaretten, stellte sich wieder ans Fenster und wartete.
    Hinter dem kleinen Fischerhafen lag die Bucht. Henry trug das Fahrrad über den Steinstrand und lehnte es an den gespaltenen Felsen, wie Martha es immer getan hatte. Er hängte ihren Parka mit der Kapuze über den Lenker, platzierte ihre Wäsche sorgfältig neben dem Fahrrad, so wie Martha es getan hätte. Dann schaute er auf das kalt leuchtende Meer. Fraßen die Fische bereits Marthas Leiche, oder könnte ihr Körper hier antreiben? Würde sie noch Kleidung tragen? Wie dilettantisch ist meine Tat gewesen, dachte er, warum habe ich das gemacht? Das ewige Metronom der Brandung ließ die Steine vor- und zurückrollen, um sie langsam zu Sand zu zermahlen. Martha hatte das Meer immer geliebt. Warum eigentlich?
    Wie von Obradin vorausgesehen, rollte der Maserati nach einer halben Stunde wieder unter seinem Fenster entlang. Die Scheinwerfer waren immer noch ausgeschaltet. Im grünen Bild des Restlichtverstärkers sah er Henry am Steuer sitzen. Nach reiflicher Überlegung war Obradin zu der Einschätzung gelangt, dass ein Dichter viele Gründe haben kann, nachts ohne Licht zum Hafen zu fahren, beispielsweise die Suche nach dem mot juste , um nur einen triftigen Grund zu nennen. Die Suche nach dem richtigen Wort trieb Flaubert nachts aus dem Haus, Proust ins Bett, Nietzsche in den Wahnsinn – warum zur Hölle sollte Henry Hayden davon verschont bleiben? Eine elegante Schlussfolgerung, die Obradin vorübergehend Erleichterung brachte. Nachdem das Geräusch des Motors verklungen war, legte er sich neben seine Frau ins Bett und schlief sofort ein.
    Kurz vor Sonnenaufgang war Henry wieder zu Hause. Der Hund hatte an derselben Stelle auf ihn gewartet. Er trottete hinter ihm ins Haus. Im Kamin verbrannte Henry Marthas Badeanzug, setzte sich in den Ohrensessel und sah zu, wie das brennende Polyester in einem Feuerball verschmolz. Ein Schnäppchen war er gewesen, im sündhaft teuren San Remo an der Strandpromenade gekauft. Er stand ihr so gut, betonte ihre schlanke, aber nicht dürre Taille. Sie hatte sich vor dem Spiegel darin gedreht und gefreut wie ein Kind. Gemeinsam hatten sie danach Campari getrunken und Postkarten geschrieben. Glück ist nur gemeinsam erlebbar, dachte er damals. Und damit war es jetzt vorbei. Verkohlt zu einem harten Plastikkrümel.
    Durch die Wärme des Feuers spürte Henry die Taubheit seiner rechten Gesichtshälfte. Sie hatte sich über die Wange bis zum Nasenflügel ausgebreitet. Er betastete die Haut mit den Fingerspitzen. Ich verfaule, konstatierte er, ich faule von innen nach außen durch. Geschieht mir recht.
    Und dann hörte er über sich ein Kratzen von scharfen Zähnen.

VI
    M artha?«
    Henry kam vom Garten ins Haus. Er zog die Gummistiefel am Stiefelknecht aus und lauschte. Er schaute auf die Uhr. Es war gegen neun. Eigentlich müsste sie noch schlafen, aber – wie ungewöhnlich, ihr Fahrrad stand nicht, wo es immer stand. Es stand nicht neben der Tür an der Hauswand.
    Auf dem Herd in der Küche kochte bereits der Gemüseeintopf, Henry war noch schnell in den Garten gegangen, um ein paar Schalotten zu ziehen. Er legte sie auf den Küchentresen neben die Patek Philippe, die er schön verpackt hatte. Der Hund schnüffelte an seiner Hose.
    Â»Wo ist Martha, Poncho?«
    Der Hund legte den Kopf schief. Was willst du von mir?, schien er zu fragen.
    Â»Dann mach ich es eben selber.«
    Henry stieg die Stufen zu Marthas Zimmer empor, klopfte leise.
    Â»Martha?«
    Er legte die Hand auf die Klinke, öffnete vorsichtig die Tür.
    Â»Liebling? Bist

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