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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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du wach?«
    Die Stehlampe brannte, das Bett war unberührt, ein Buch lag aufgeschlagen auf dem Kissen. Der Hund kam hinter Henry ins Zimmer und schnüffelte. Im Badezimmer war sie auch nicht. Henry riss das Fenster auf, rief laut ihren Namen, doch sie antwortete nicht. Das war ungewöhnlich. Aber noch kein Anlass zu Sorge. Vielleicht war sie in der Scheune.
    Etwas schneller lief er die Treppe hinunter, zog sich die Stiefel wieder an und verließ das Haus. Er öffnete die Scheunentür, ihr Saab stand noch da. Vielleicht war sie einfach früh aufgestanden und hatte das Fahrrad genommen und war zum Meer gefahren.
    Henry schloss wieder das Scheunentor. Er dachte nach. Sie weiß doch, dass ich schon wach bin, sie wird doch nicht einfach das Haus verlassen, ohne mir Bescheid zu sagen? Nein, das würde sie nicht. Henry beschloss, zum Meer zu fahren, um sie zu suchen.
    Er öffnete die Seitentür des Wagens, um Poncho auf den Beifahrersitz zu lassen, der Hund war ganz vernarrt ins Autofahren. Doch er stieg nicht ein, legte sich hin, presste die Schnauze auf die Erde. Das tat er sonst nur, wenn Henry mit dem Gartenschlauch kam, um ihn abzuduschen, weil er sich in Aas gewälzt hatte. Henry zog ein getrocknetes Stück Fleisch aus der Tasche, hielt es hoch, der Hund rührte sich nicht. Henry warf ihm das Leckerli hin, stieg ein und startete den Wagen. Der Hund wusste alles.
    Gerade zog Obradin die Jalousien vor dem Schaufenster hoch, als Henry vor seinem Geschäft anhielt und sein Seitenfenster herunterließ.
    Â»Obradin, hast du meine Frau gesehen? Ist sie hier vorbeigekommen?«
    Obradin schüttelte den Kopf. »Ich hab nur meine gesehen. Ich habe Dorsch. Willst du Dorsch?«
    Â»Später.«
    Â»Hast du den Marder gefangen?«
    Â»Noch nicht.«
    Henry fuhr langsam weiter. Er sah im Rückspiegel, dass Obradin ihm nachschaute. Vor dem Hafen nahm er die westliche Abzweigung und erreichte nach einer Minute die Bucht. Der Wind kam vom Meer, die rote Flagge, die vor gefährlichen Strömungen warnte, flatterte heftig. Henry ließ den Schlüssel stecken, stieg aus und lief die hundert Meter über den Steinstrand zum Wasser. Noch immer lehnte Marthas Fahrrad am Fels. Doch ihr grüner Parka hing nicht mehr am Lenkrad. Der Wind hatte die Wäsche über den Strand geweht, vereinzelte Stücke hingen zwischen den Felsen. Er sah eine von Marthas grünen Gummisandalen auf den Steinen liegen, bückte sich, hob sie auf. Getrocknete Tangfetzen tanzten über die Steine. Die Brandung war nun aschgrau, weiße Schaumkronen leuchteten darauf.
    Direkt am Wasser stand Martha im grünen Parka.
    Sein Herz hielt an, als er sie sah, heiß schoss es seinen Hals herauf, seine Knie wurden weich. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, war barfuß, die Hosen hatte sie hochgekrempelt. Ihr Haar war von der Kapuze verborgen. Gerade bückte sie sich, nahm einen Stein auf. Henry rannte über die Steine auf sie zu.
    Â»Martha!«
    Jetzt drehte sie sich erschrocken zu ihm um. Henry blieb stehen. Nein, sie war es nicht. Sie war viel jünger, ihr Gesicht war vom Wind gerötet, sie lächelte erschrocken.
    Â»Verzeihung. Ich habe gedacht, Sie sind meine Frau. Das ist ihr Parka.«
    Die Frau zog sich die Kapuze vom Kopf, und Henry sah ihr rotbraunes, kurzes Haar. Sie war jung, nicht einmal dreißig, und begann sich den Parka aufzuknöpfen. Wenn Gott gleichbedeutend mit Natur ist, dachte Henry, dann gibt es keinen Grund, an seiner Existenz zu zweifeln.
    Â»Nein, lassen Sie.«
    Mit Marthas Sandale in der Hand beschattete er die Augen und schaute suchend aufs Meer. Die Frau folgte seinem Blick.
    Â»Suchen Sie jemanden?«
    Â»Meine Frau. Sie ist etwa so groß wie Sie und so alt wie ich.«
    Sie blickte sich nun ebenfalls um.
    Â»Tut mir leid, ich hab hier niemanden gesehen.« Ein entschuldigendes Lächeln enthüllte weiße Zähne in festem, rosigem Zahnfleisch.
    Â»Wie lang sind Sie schon hier?«
    Â»Bestimmt schon eine Stunde oder länger.«
    Henry deutete auf den gespaltenen Fels hinter ihm. »Da steht ihr Fahrrad. Sie muss hier irgendwo sein.«
    Henry lief los. Er lief an der Wasserlinie entlang und schaute aufs Meer. Die junge Frau sah sich ebenfalls um, bewegte sich in Richtung Fahrrad, suchte die Felsen ab. Henry sah aus dem Augenwinkel, wie sie sich nach der Wäsche bückte, um sie einzusammeln.
    Henry lief von einem Ende des Strandes zum

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