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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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anderen, das Wasser schwappte ihm in die Stiefel. Außer Atem erreichte er schließlich wieder das Fahrrad. Die junge Frau saß auf einem Stein, die eingesammelte Wäsche hielt sie auf ihrem Schoß fest umklammert. Sie sah, wie Henry in die Knie ging und das Gesicht mit den Händen bedeckte.
    Sie saß noch immer auf dem Stein, als die Rettungs schwimmer der Feuerwehr motorisierte Schlauchboote von den Hängern zogen und zu Wasser ließen. Zwei Stunden später kam ein Hubschrauber der Marine und begann Suchkreise zu ziehen. Die Fischer des Ortes liefen mit Hunden die Umgebung der Bucht ab.
    Trotz des Lärms im Motorraum seines alten Kutters hörte Obradin das Donnern der Rotoren. Er stieg durch den Qualm an Deck der »Drina« und sah, wie der schwere Marinehubschrauber im Tiefflug über der Bucht kreiste. Das konnte nur bedeuten, dass man einen Ertrunkenen suchte oder ein havariertes Schiff. Obradin kletterte zurück in den Qualm und schaltete den Motor aus. Der Diesel der »Drina« würde nicht mehr lange durchhalten. Er hatte merklich an Kompression verloren und warf bereits Öl aus. Seine Zeit war gekommen, Obradin wusste nicht, woher er das Geld für einen neuen Motor nehmen sollte. Die »Drina« war kein Hochseetrawler. Seit der Hering nicht mehr in unendlichen Massen kam, war Obradin immer weiter aufs Meer hinausgefahren. Auch bei starkem Seegang hatte er den alten Diesel ohne Gnade geschunden, nun ging es zu Ende mit ihm.
    Als Obradin den Strand erreichte und aus dem Wagen sprang, sah er Henry bis zur Hüfte in der Brandung stehen, zwei Männer fassten ihn unter und zogen ihn aus dem Wasser. Die Männer stützten ihn auf seinem kurzen Weg zum Ambulanzwagen. Sein Gesicht war weiß, er taumelte. Der halbe Ort hatte sich bereits in der Bucht versammelt, niemand sprach ein Wort, alle dachten dasselbe. Obradin sah Henrys Blick, seine Augen waren dunkel wie geschmolzener Quarz, den ein Blitz in den Sand brennt.
    Elenor Reens, die kurzhaarige, klein gewachsene Bürgermeisterin im gelben Ölzeug, reichte Obradin ihr Fernglas und fasste das Unabwendbare zusammen. »Es wird keine Beerdigung geben. Sie ist schon weit fort.«
    Obradin schaute durchs Glas auf das Meer und bekreuzigte sich. Mehr blieb nicht zu tun.
    Gegen Abend wurde der Wind noch stärker. Zwei Trawler mit Suchscheinwerfern kreuzten vor der Küste, es kam noch ein Schiff der Küstenwache mit Tauchern, obwohl längst keine Hoffnung mehr bestand. Um Mitternacht wurde die Suche beendet. Nach und nach verloschen die Lichter des Ortes. Nur in der Schenke am Hafen wurde noch lange getrunken und über die Ereignisse des Tages gesprochen. Es gab niemanden, der nicht überzeugt war, dass die stille, unscheinbare Frau des Schriftstellers beim Baden von der Strömung erfasst und aufs offene Meer gezogen worden war, wo sie schließlich ertrank. Jeder hatte sie gesehen, keiner kannte sie, sie war immer nur die Frau des Schriftstellers. Sie war nur selten zum Einkaufen oder Flanieren in den Ort gekommen. Bei jedem Wetter war sie mit dem Fahrrad zum Baden in die Bucht gefahren, immer allein. Das Mitgefühl der Menschen im Ort galt dem einsamen Mann, der diese Nacht ohne seine Frau verbringen musste, ohne Trost und Hoffnung auf ihre Wiederkehr.

VII
    E s gibt keine Stille, welche der Abwesenheit des anderen gleicht. Alles Vertraute ist aus ihr gewichen. Feindlich und vorwurfsvoll ist diese Stille. Geräuschlos tauchen die Schattenwesen der Erinnerung auf und beginnen ihr Bilderspiel. Trugbilder und Wirklichkeit vermischen sich, Stimmen rufen uns, und die Vergangenheit kehrt zurück.
    Lange stand Henry so im dunklen Haus, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, und lauschte. Es war nicht mehr dasselbe Haus. Martha war fort – und er auf schäbige Weise allein geblieben, eingesperrt mit einem Gewissensdämon, der ihn zweifellos attackieren würde. Die falsche Frau hatte er umgebracht, sich selber alles weggenommen, in einem übereilten Akt zerstört, ganz ohne Notwendigkeit und Sinn. Die Strafe hatte schon begonnen, jeden Tag würde die Erinnerung mit ihm wach werden und sich erneuern. Als Wächter deines Geheimnisses darfst du niemals unachtsam werden , so hatte Martha das erste Kapitel von Besondere Schwere der Schuld begonnen, … du darfst niemandem beichten und niemals vergessen. Sicher hatte Martha damit ihn gemeint. Wen denn sonst?
    Sein

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