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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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theatralisches Suchspiel am Strand war überzeugend gewesen. Die Begegnung mit der jungen Frau war ein Geschenk des Zufalls, denn was kann authentischer sein als der Zufall? Eine nichts ahnende Frau sammelt Steine am Strand und wird Zeugin einer Tragödie. Sie sucht nun mit dem vor Schmerz Wahnsinnigen die Gegend ab, sie ruft die Feuerwehr und sammelt Marthas verwaiste Wäsche auf, sie weint mit ihm, sie leidet mit ihm, sie sieht alles ganz genau. Das ist authentisch.
    Die Lügner unter uns werden wissen, dass jede Lüge ein Quantum Wahrheit enthalten muss, um überzeugend zu sein. Ein Spritzer Wahrheit ist oft genug, aber er muss sein, wie die Olive im Martini.
    Die Idee, nach Martha zu suchen, war Henry gekommen, gerade als er die Polizei anrufen wollte. Den Telefonhörer schon in der Hand, besann er sich, dass man besser erleben sollte, woran man glauben will. Erlogenes vergisst man schnell, Lügen muss man sich merken. Das ist mühsam, und mit der Zeit wird jede Lüge ein Blindgänger und damit gefährlich. Henry wusste das. Vergessene Lügen liegen oft lange unter der Oberfläche und rosten vor sich hin, weil keiner sie bemerkt. Man wird sorglos, man wird unachtsam, man vergisst. Aber die anderen vergessen nicht. Wer also nicht mehr weiß, wo vergessene Lügen liegen, sollte das ganze Gebiet meiden. Henrys Biographie war voll von diesen gefährlichen Dingern, und deshalb betrat er seine Vergangenheit nie, denn sie war vermintes Gebiet. Wahrhaft Erlebtes bewahrt das Gedächtnis auf lange Zeit. Dieser Erfahrung vertrauend, hatte Henry sich auf die Suche nach seiner toten Frau gemacht, um die wachsende Unruhe und Sorge nachzuempfinden, wie sie wohl jeder anständige Ehemann gefühlt hätte. So kam es, dass er sich tatsächlich sehr schlecht fühlte, als er am Strand zusammenbrach. Er empfand echtes Entsetzen, er weinte bitterlich und aus tiefstem Herzen. Und die junge Frau sah alles. Soweit alles bestens.
    Noch immer ganz gerührt von sich, setzte Henry sich auf die Marderfalle und zog sich die sandgefüllten Stiefel aus, seine nassen Socken tropften auf das Holz. Er blickte die Treppe empor. Die ersten Stufen waren im schwachen Mondlicht zu erkennen, die höheren verschwanden in der Dunkelheit. Da oben lebte niemand mehr – außer dem Marder, um den würde er sich auch noch kümmern. Von nun an würde er mit seinen Erinnerungen leben, und kein Roman würde mehr erscheinen.
    Henry sprang von der Kiste auf. Der Roman! Er hatte Moreany das fertige Manuskript im August versprochen. Wo war das Manuskript? Hatte er es in der Aufregung übersehen?
    Henry nahm zwei Stufen auf einmal. Vor Marthas verschlossener Tür lag der Hund, die Schnauze auf den Holzboden gepresst. Das Manuskript lag nicht wie üblich auf dem kleinen Tisch neben der Schreibmaschine. Der Papierkorb war wie immer leer. Henry warf sich auf den Boden und schaute unter das Bett, durchwühlte den Schrank, das Bett, das Badezimmer – das Manuskript war nicht da. Er öffnete das Fenster, er riss sich das Hemd auf, ihm war unerträglich heiß, und setzte sich auf Marthas Bett. Poncho trottete ins Zimmer, setzte sich zu Henrys Füßen und begann mit der Fellpflege.
    Martha hat alles gewusst. Bevor sie gestern zu Betty fuhr, hat sie den Roman im Kamin verbrannt – oder nein, schlimmer noch, sie hat ihn an Moreany geschickt. Per Einschreiben, mit einem Kärtchengruß, geschrieben in ihrer schön geschwungenen Frauenhandschrift. Etwa so:
    Viel Spaß bei der Lektüre, Claus. Henry hat keine Zeile davon geschrieben, er hat nie etwas geschrieben, er kann nicht einmal einen Schulaufsatz schreiben. Dies ist keine Übung, es ist mein voller Ernst. Das Einzige, was mein Gatte in den Jahren unserer Ehe zustande gebracht hat, ist ein Bastard. Solltest ausgerechnet du, Betty, meinen letzten Roman lektorieren, sei versichert, das Kind in deinem Bauch wird so werden und enden wie sein Vater. Von Geburt an wertlos, ein Geschöpf ohne Bedeutung. Henry hat übrigens seinen Vater getötet. Frag ihn bei Gelegenheit, wo seine Mutter vergraben liegt. Eine Bitte, Claus, wenn ich morgen nicht mehr am Leben bin, seien Sie doch so gut und verständigen die Behörden.
    Henry stand von Marthas Bett auf. Nein. Das würde sie ihm nicht antun, Denunziation war nicht ihr Stil. Groll und Vergeltung waren ihr fremd wie der Wunsch nach Ruhm. Henry hätte eine Frau mit solch

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