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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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niedrigen Instinkten auch niemals geheiratet. Marthas Rache würde die Stille sein, die bereits als giftiger Staub auf allem lag. Und da war es wieder, dieses hässliche Nagen. Es drang durch die Wand. Der Marder musste direkt über ihm sein.
    Bis zum Morgengrauen durchsuchte Henry das Haus. Im Kamin fand sich keine Papierasche, nur kleine Kügelchen von Marthas geschmolzenem Badeanzug. Auch im säuberlich getrennten Küchenmüll war nichts zu finden. Schließlich gab er auf, ging müde und resigniert ins Schlafzimmer, um sich hinzulegen. Auf seinem Kopfkissen fand er das Manuskript. Weiße Finsternis stand mit Bleistift auf dem Deckblatt. Martha hatte einen Titel gefunden. Mit einem Gummiband für Einweckgläser gebunden. Henry riss den Gummi ab. Das letzte Kapitel fehlte. Liebster … hatte Martha mit Bleistift auf die letzte Seite geschrieben, … hab noch ein wenig Geduld. Ahnst du, wie es endet? Kuss. Martha.
    * * *
    Betty kam nicht. Claus Moreany legte den letzten MRT-Befund in die Schublade seines Schreibtisches und verschloss sie. Die Metastasen waren von seiner Hüfte bereits in die Wirbelsäule gewandert, aber noch war Zeit. Im August würde Henrys Manuskript vorliegen. Bis zum Erscheinen des Buches blieb somit genug Zeit für eine Hochzeitsreise ins spätsommerliche Venedig. Betty liebte Venedig. Sie liebte die Kunst der Renaissance, das algengrüne Wasser der Lagunen und die Sonne Italiens. Als seine Ehefrau würde sie sein gesamtes Vermögen erben – warum sollte sie Nein sagen? Nichts erwarten und nichts verlangen wollte Moreany dafür von ihr bis auf das gelegentliche Privileg ihrer Nähe. Nicht einmal berühren müsste sie ihn. Der Ekel der Jugend vor den Ausdünstungen des Alters war ihm noch gegenwärtig. Erst neulich hatte er das Alter wieder gerochen, als er seine Opernloge mit einer alten Klassenkameradin aus der Oberprima teilte. Ihr flaumbewachsener Ochsennacken ragte aus dem Abendkleid, der Geruch von gelebter Existenz verleidete ihm die ganze »Traviata«. Besonders peinigend war der Gedanke, selbst so zu riechen und nichts dagegen tun zu können.
    Moreany war jetzt einundsiebzig, fast vierzig Jahre älter als Betty. Eine Chemotherapie kam nicht infrage, sie hätte ihn sein Haar und den letzten Rest seiner Männlichkeit gekostet. Ein Jahr ließe sich vielleicht damit gewinnen, aber zu welchem Preis? Erfreulicherweise ging der Krebs mit seinem Zerstörungswerk so bedächtig vor, als wolle er vor Ultimo auch noch mal nach Venedig. Moreany glaubte nicht, dass er den nächsten Sommer erleben würde – geschweige denn ein Kind zeugen. Aber Betty war jung, nach seinem Tod konnte sie noch einmal heiraten, Kinder mit einem anderen Mann haben und eine Familie gründen. Ihre Kinder würden dann in Moreanys Haus aufwachsen, in seinem Garten spielen und im Schatten der Ahornbäume groß werden, die sein Vater in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gepflanzt hatte. Betty wäre für den Rest ihres Lebens abgesichert und würde den Verlag mit der gleichen Hingabe führen und beschützen, wie sie jetzt schon ihre Arbeit machte. Davon war Claus Moreany fest überzeugt.
    Die Tür zu seinem holzgetäfelten Büro stand wie immer offen. Es war jetzt zehn Uhr. Ungeduldig stand Moreany vom Schreibtisch auf, fischte ein Blatt Papier aus dem Holzkasten für interne Eingänge und trat durch die offene Tür in sein Vorzimmer, wo seine Sekretärin saß.
    Honor Eisendraht hörte mit dem Korrekturlesen auf und schaute auf das sinnlose Papier, das er ihr hinhielt. Seit über zwanzig Jahren saß sie nun in Moreanys Vorzimmer. Nach den ersten, guten Jahren hatte sie den schleichenden Niedergang des Verlags miterlebt, Moreanys Kampf gegen das Alter und sinkende Umsätze. Als die Zahlen rot wurden, trug sie frischere Farben und ging zum Friseur, um Moreany Hoffnung zu geben.
    Sie glaubte an die Macht der unsichtbaren Zeichen, die, versteckten Wegweisern gleich, alle wahrhaft Suchenden zu ihrem Ziel lenken. Nach und nach mit diskreter Systematik hatte sie die düsteren Kalendermotive in Moreanys Büro ausgetauscht, die Ladenhüter des Verlagsprogramms aus den Bücheregalen entfernt und kochte seit Jahren koffeinfreien Mokka mit einer Prise Kardamom. Die entkrampfende Wirkung dieses Ingwergewächses soll ja schon Weltkriege verhindert haben. Nichts von den guten

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