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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Einflüssen schien Moreany zu bemerken, was Honor in ihrer Gewissheit bestärkte, dass ihre Dosierung genau richtig war. Es ging ihm sichtlich besser, seit das schattige Halbdunkel seines Büros dezent nach maghrebinischer Minze und Sandelholz duftete und die Blumen auf seinem Schreibtisch nicht mehr verblühten.
    Trotz ihrer sanften Intervention war die Insolvenz des Verlages näher gerückt. Die Energie, mit der er den Verlag so lange geführt hatte, nahm ab. Inzwischen erledigte Honor seine private Korrespondenz und übernahm auch das Allerheiligste, die Kontrolle der Buchhaltung. Das intuitive Verständnis von Zahlen und Mengen ist eine Gabe, die man nicht erlernen oder erwerben kann. In der Partitur einer Jahresabschlussbilanz sah Honor das prozesshafte Wesen eines Unternehmens, fand Einnahmequellen durch den Verkauf von Lizenzen und Filmrechten. Es entging ihr nicht, dass Moreany über Jahre hinweg Verluste machte. Auch dass er bereits testamentarische Verfügungen vorbereitete und in regelmäßigen Abständen einen Arzt besuchte, bemerkte sie. Erste Investoren stellten sich vor. Sie hatten Blut gerochen und brachten gleich ihre Bilanzprüfer mit. Während diese Geier mit Blicken schon das Inventar taxierten, servierte Honor den Kaffee, den sie mit altem Blumenwasser gekocht hatte und reichte Gebäck dazu. Sie setzte sich in ihr Vorzimmer und wartete. Es dauerte nicht lange, bis der Erste sich nach den Toiletten erkundigte. Er kam nicht von dort zurück.
    Dennoch, nach Lage der Dinge war das Ende des Verlags nur eine Frage der Zeit. Honor Eisendrahts stille Hoffnung, dass ihre Stunde an Moreanys Seite kommen würde, endete, als diese eitle, unwissende und viel zu junge Frau mit dem Manuskript von Frank Ellis unter dem Arm in ihr Vorzimmer trat.
    Honor schätzte, dass diese Frau halb so alt war wie sie. Betty war glatt und prall und schön. Als offene Kriegserklärung trug sie einen kurzen, schwarz-weiß karierten Rock. Die Geschützrohre ihrer Oberschenkel waren direkt auf Moreany gerichtet, der von seinem Schreibtisch aufgestanden war, als sie in sein Büro trat. Moreany schloss nach wenigen Worten die Tür, was er sonst nie tat. Es wurde ein grauenvoll langer Tag. Diese Frau blieb über drei Stunden. Honor hörte ihren Chef telefonieren, er ließ sich nicht wie sonst über das Vorzimmer verbinden, sondern wählte direkt, auch das ein schlechtes Zeichen. Schließlich kam er aufgeregt mit dem Manuskript in der Hand ins Vorzimmer und bat sie, Champagner zu besorgen. Aus seinem Raum drang der Geruch von Zigaretten und Maiglöckchen. Honor sah Bettys Fuß mit Strumpfnaht aus Moreanys Eames Chair wippen.
    Honor ging in den Supermarkt an der Ecke, kaufte den Champagner und besorgte noch ein paar Gläser in der Kantine. Sie selbst wurde nicht zum Champagnertrinken eingeladen. Nach Büroschluss lüftete sie das Vorzimmer und räumte Moreanys Büro auf. Sie wusch die Gläser ab, leerte den vollen Aschenbecher auf seinem Schreibtisch und zählte die Zigarettenstummel mit Lippenstiftspuren. Es war der dreiundzwanzigste März gewesen. Moreany hatte ihren Geburtstag vergessen. Der größte Feind des Mannes ist er selbst, der Feind der Frau ist die andere.
    Der Erfolg von Frank Ellis änderte alles. Moreany blühte auf. Täglich erschien Betty zu was weiß was für Besprechungen. Sie grüßte sie wie ein Dienstmädchen mit einem gezielt herablassenden Guten Tag, Honor und schloss dann die Tür zu Moreany Büro hinter sich. Nur ihr widerwärtiges, billig riechendes Maiglöckchenparfüm blieb im Vorzimmer.
    Man sagt vom Drachenbaum, er erfülle stille Wünsche. Honor kaufte einen und stellte ihn ans Fenster ihres Büros. Die Pflanze trieb schwertförmige Blätter wie kleine Dolche, und tatsächlich, nach einem halben Jahr wurden Bettys Besuche seltener. Honor sah erste, lieblich duftende Blüten am Drachenbaum. »Betty nimmt sich Arbeit mit nach Hause«, erklärte ihr Moreany und sah dabei nicht besonders glücklich aus. Was für Arbeit, wollte Honor gar nicht wissen. Er hatte also erkannt, dass er zu alt für sie war. Oder, besser noch, Betty hatte einen anderen Mann gefunden, einen jungen, dummen Rüden, der ihren Lockstoffen erlegen war. Die Tür zu Moreanys Büro blieb nun wieder leicht geöffnet – der Drachenbaum blühte.
    Â»Ist Betty noch nicht da?«, fragte

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