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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Turmkarte. Eine denkbar ungünstige Karte.
    Während der einstündigen Fahrt sprachen beide kein Wort. Moreany fuhr schnell und konzentriert. Vor Jahrzehnten hatte er die Mille Miglia als Zweiter gemeistert, war noch immer ein exzellenter Fahrer. Der Wagen lief leise, nur wenn er abbog, tickte der Blinker. Betty spürte aufsteigende Übelkeit und fragte sich, ob es Angst war oder nur ein Symptom der Schwangerschaft. Marthas unerwartete Visite war kein Freundschaftsbesuch gewesen. »Sie sollten wissen«, hatte sie schon an der Tür gesagt, »dass ich Sie nicht hasse. Der Mann, den wir beide lieben, steckt in einer großen Krise. Er kann den Roman nicht beenden, ich sehe ihn leiden.« Martha war so rührend heiter gewesen, als sie bei ihr auf dem Sofa saß. Sie sprach von Freundschaft der Liebe, von guten Jahren und unaufschiebbaren Veränderungen. Verzweifelte werden bekanntlich ruhig, wenn sie sich zum letzten Schritt entschlossen haben. Die Vorfreude auf den erlösenden Tod hebt ihre Laune.
    Betty ließ das Seitenfenster des Wagens herunter. Warum war Martha erst gestern Nacht ins Meer gesprungen, wenn sie doch alles schon so lange wusste? Vielleicht war es doch Rache gewesen. Mit ihrem Selbstmord wollte sie unser Glück zerstören, dachte Betty. Gut möglich, dass Henry ihr die Schuld an Marthas Tod geben würde. Wie würde Moreany reagieren, wenn er von all dem erführe? Venedig wäre jetzt genau das Richtige. Weit genug fort, um nachzudenken, nah genug, um in drei Stunden wieder bei Henry zu sein. Wieder das heftige Ziehen in ihrem Unterleib. Sein Kind. Es war in ihr, es wuchs heran, es nahm schon Kontakt mit ihr auf. Sie würde es ganz für sich haben.

VIII
    D ie Leiche trieb mit dem Gesicht nach unten und weit ausgebreiteten Armen parallel zu Küste. Ein junger Kormoran landete auf ihrem Rücken, breitete die Flügel aus und trocknete sein Gefieder. Der Vogel auf dem Kadaver passierte Obradins Kutter und trieb mit der Strömung weiter auf die Landzunge zu, deren nördliche Spitze kilometerweit ins Meer ragte.
    Obradin war aufs Meer gefahren, nicht, um zu fischen, sondern um seine Gedanken zu ordnen. Er machte langsame Fahrt, um den keuchenden Diesel zu schonen. Als das Festland außer Sicht war, stellte er den Motor ab und ließ den Kutter treiben. Er setzte sich auf das Vordeck, um eine bosnische Hecke zu rauchen. Er konnte sich geirrt haben. Dann war es nicht Henrys Wagen gewesen, den er in der vergangenen Nacht so klar erkannt hatte. Der Mann am Steuer war folglich auch nicht Henry gewesen, sondern ein Doppelgänger im gestohlenen Maserati. Nichts als ein beunruhigend genauer Traum war es dann, einschließlich der gerauchten Zigaretten, die seine Frau Helga vom Fensterbrett geräumt und ihm auf den Nachttisch gelegt hatte.
    Und selbst, wenn er sich nicht geirrt hatte, und einiges sprach dafür, so kann ein Mann doch nachts ohne Licht fahren, wohin er will, und seine Frau kann ertrinken, wo sie will und wann immer sie will. Eine Koinzidenz ohne Zusammenhang, die überdies keinen etwas angeht. Aber die Sache mit dem Fahrrad.
    Vor Sonnenaufgang, nach nur einer Stunde Schlaf war Obradin erwacht und sogleich aufgestanden. Er zog sich leise an und fuhr wenige Minuten später zum Hafen. Die »Drina« lag träge pendelnd an der Mole. Obradin überprüfte die Taue und verzurrten Netze, öffnete und schloss alle Luken, vergewisserte sich, dass der Anker richtig lag, sprang wieder auf die Mole und kletterte über die betonierten Wellenbrecher, welche von Zwangsarbeitern in den letzten Monaten des Krieges aufgetürmt worden waren.
    Die Sonne ging auf, die wenigen hundert Meter zum Strand legte er zu Fuß zurück. Obradin erkannte Marthas Fahrrad, das an einen Felsen gelehnt stand, sie fuhr täglich damit an seinem Geschäft vorbei zur Bucht. Aber niemals vor der Mit tagszeit. Ihre säuberlich gefaltete Wäsche lag neben dem Fahrrad. Er beschattete die Augen vor den intensiven Strahlen der aufgehenden Sonne. Nachdem er die Bucht vergeblich nach Henrys Frau abgesucht hatte, kehrte er zu seinem Kutter zurück.
    Obradin folgte dem Kormoran mit den Augen, wie er über den Funkmast seines Kutters Richtung Küste flog. Dann ließ er den Diesel wieder an. Die Strömung hatte ihn ein paar Seemeilen ins offene Meer gezogen. In langsamer Fahrt kehrte er zum Hafen zurück, vertäute seine »Drina« und betrat

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