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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Dunkel der vergangenen Nacht untersucht hatte. Jetzt war alles unordentlich, und es roch stark nach Tabak. Sie musterte die haarbedeckte Hundedecke neben dem Schreibtischstuhl, den von verworfenen Ideen überquellenden Papierkorb, wahrscheinlich halb voll schon Millionen wert. In der Dunkelheit hatte sie die Bohrinsel als undefinierbares Gebilde im Raum stehen sehen, jetzt war es verschwunden.
    Moreany kam in den Raum, er sah noch schlechter aus, seine Hände rochen nach Seife, Henry reichte ihm ein Glas.
    Â»Eis?«
    Â»Ein Stück, wenn du hast.«
    Â»Martha hat keine Nachricht hinterlassen«, eröffnete Henry seinen Bericht, als er mit dem Eis aus der Küche kam, »ihr Fahrrad stand am Strand.«
    Moreany drehte mit dem Zeigefinger die Eiswürfel in seinem Glas. »Hast du sie gefunden?«
    Â»Niemand hat sie gefunden. Die Strömung hat Martha aufs Meer gezogen. Ihre Gummisandalen, ihre Sachen, das Fahrrad, alles war noch da.«
    Â»Am Strand?«, fragte Betty. Henry sah ihren erstaunten Blick.
    Â»Ja. Unten in der kleinen Bucht neben dem Hafen, wo sie immer schwimmen geht.«
    Henry nahm einen großen Schluck Scotch, lutschte kurz den Eiswürfel und spuckte ihn zurück ins Glas. Er schien nicht sonderlich zu leiden, dachte Betty, aber wie sieht Leiden aus?
    Â»Als sie zum Mittagessen noch nicht zurück war, bin ich runter zum Strand. Am Wasser stand eine Frau in Marthas grünem Parka, aber es war eine andere Frau.«
    Wieder sah Henry Bettys überraschten Blick. »Der Wind hat Marthas Parka über den Strand geweht, ihr war kalt. Sie hat ihn angezogen.«
    Â»Wie alt war sie?«
    Â»Etwas jünger als du.«
    Â»Kennst du sie?«
    Â»Nein. Spielt das jetzt eine Rolle?«
    Moreany räusperte sich. »Entschuldigt, wenn ich diesen Gedanken jetzt einfach so ausspreche, aber ist es denn ausgeschlossen, dass Martha noch lebt? Ich meine, kann nicht irgendetwas Ungewöhnliches passiert sein?«
    Â»Was sollte das sein?«, fragte Henry.
    Â»Nun … ihr lebt hier vollkommen ungeschützt. Es wäre doch denkbar, dass Martha …« Moreany machte eine kurze Pause, um den Gedanken vorsichtig zu formulieren, »… entführt wurde, um dich zu erpressen, oder?«
    Â»Wer ist so dumm, Claus? Jeder vernünftige Mensch würde mich dochentführen und dann Martha erpressen, oder?«
    Betty zündete sich eine Zigarette an und ließ ostentativ das Feuerzeug zuschnappen. »Solche Menschen gibt es, Henry. Dumme, böse Menschen.«
    Henry mochte diesen Ton nicht. »Wer sollte das sein?«
    Für eine Weile war es ganz still im Raum. Henry sah Rauch wie Drachenatem aus Bettys schmalen Nasenlöchern strömen. Sie bestrafte ihn, weil sie wusste, dass er log.
    Â»Wer hat die Polizei gerufen?«, brach Moreany das Schweigen.
    Â»Bis jetzt niemand.«
    Â»Ich rufe die Polizei«, sagte Moreany und tastete seine Taschen ab.
    Henry stellte das Glas ab. »Ich denke, das mache besser ich.«
    Er ging in die Küche, um die Polizei anzurufen. Das hätte er längst tun sollen. Wie ärgerlich. Er hatte es einfach vergessen.
    Betty spielte mit dem Hovawart im Garten, während Moreany und Henry in der Küche auf die Polizei warteten. Der Hund sprang an ihr hoch, sie warf das Stöckchen. Unter Hunden muss sich herumgesprochen haben, dass Menschen unermüdlich mit Stöcken oder Bällen werfen, wenn man sie ihnen bringt. Die Sonne ließ Bettys makellose Haut aufleuchten, keine Wolke war am Himmel. Die beiden Männer sahen ihr zu, jeder in ganz eigenen Gedanken.
    Henry bemerkte, dass Moreany sich leicht schwankend am Tresen der Kücheninsel festhielt. Er war alt geworden in den letzten Monaten, hatte an Gewicht verloren. Winzige Schweißperlen schimmerten unter seinem Haaransatz. Seine Finger hatten sich kalt angefühlt, als Henry ihm den Scotch reichte.
    Â»Möchtest du eine Kleinigkeit essen, Claus? Ich hab Linsensuppe gekocht. Sie ist in einer Minute warm.«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er die Schale mit der Linsensuppe aus dem Kühlschrank, zog vorsichtig die Folie davon ab, schnupperte prüfend.
    Â»Heute ist nicht der Tag, darüber zu reden, Henry, aber ich wollte Betty vorhin einen Heiratsantrag machen.«
    Â»Wem?«
    Henry wandte Moreany den Rücken zu, stellte die Schale in die Mikrowelle und wägte ab, ob das eine schlechte oder absurd gute Nachricht war. Er sah Moreanys

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