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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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verzerrte Kontur in der Scheibe des Gerätes spiegeln.
    Â»Du hast richtig gehört, ich würde Betty gern heiraten. Ich weiß, ich bin zu alt für sie, aber ich liebe sie. Wie findest du das?«
    Henry spähte aus dem Fenster. Betty war nicht zu sehen.
    Â»Das war heute ?«
    Â»Vorhin in meinem Büro. Sie kommt rein, ich will sie fragen, ob sie meine Frau werden will, und kriege kein Wort raus. Stattdessen erkundige ich mich zweimal bei ihr, was mit ihrem Auto los ist. Ist das nicht lächerlich?«
    So viel Glück habe ich nicht verdient, dachte Henry. »Was ist mit ihrem Auto?«
    Â»Sie hat irgendein Problem mit ihrem Wagen. Und dann hast du angerufen, und dann war es zu spät.«
    Â»Was hat sie für ein Problem mit dem Wagen?«
    Â»Das musst du sie selber fragen. Ich weiß es nicht.«
    Wieder sah Henry in die Zukunft. Angenommen, dieser unwahrscheinliche Glücksfall träfe wirklich ein, und Betty würde Moreany heiraten, wäre er natürlich Trauzeuge. Betty würde sein Kind zur Welt bringen, bestimmt ein schönes Kind. Er, Henry, würde dann Patenonkel seines eigenen Kindes sein, ganz bestimmt der beste Onkel der Welt. All diese zwischenmenschlichen Probleme wären, zumindest in Tei len, gelöst. Wie aber Betty von einer anachronistischen Vernunftehe überzeugen? Mit der verschwiegenen Freude eines Goldgräbers, der einen faustgroßen Nugget findet, legte Henry seinem Freund und Verleger beide Hände auf die Schulter.
    Â»Ich freue mich für dich, Claus. Es ist nie zu spät. Folge deinem Herzen und frag sie einfach.«
    Moreany schloss Henry in die Arme. Selbst in dieser verzweifelten Lage hatte Henry die Größe, sich über das Glück anderer zu freuen. Moreany konnte nichts sagen, so gerührt war er.
    Die Mikrowelle zirpte. Henry nahm die Suppenschüssel heraus und stellte sie vorsichtig vor Moreany auf den Tisch. Auch er war sichtlich gerührt.
    Â»Möchtest du eine Scheibe Brot dazu?«
    * * *
    Obradins Schneidezähne lagen im feuchten Sand des Kellers. Blutiger Speichel machte die steile Kellertreppe, die man ohnehin nur rückwärts hinabsteigen konnte, zusätzlich rutschig. Obradin hatte zuvor die Glastür des Fischgeschäftes eingeworfen, wohl weil er seinen Schlüssel nicht fand, und war beim Versuch, ein zweites Fass aus dem Keller zu holen, senkrecht havariert.
    Ein großer Scheißhaufen neben den Slibowitz-Fässern dokumentierte, dass Obradin sich zwischen elf Uhr vormittags und zwölf Uhr mittags im Keller aufgehalten haben musste. Zur Mittagszeit öffnete die kleine Hafenschenke, wo Obradin einen weiteren Zahn ließ, weil sich seine Auffassung von bargeldlosem Zahlungsverkehr nicht mit der des Wirtes vereinbaren ließ. Wie sich später herausstellte, war der Zahn kariös und hätte früher oder später sowieso rausgemusst. Keinem der herbeieilenden Männer gelang es, den rasenden Serben zu besänftigen.
    Schließlich traf ihn ein Betäubungspfeil aus dem Gewehr des Jagdaufsehers. Das Narkotikum, genannt »Hellabrunner Mischung«, war für ein Nashorn dosiert, dennoch blieb Obradin noch Zeit, die serbische Nationalhymne zu singen, bis er schließlich in einen todesähnlichen Schlaf fiel.
    Seine Frau Helga, die Verlauf und Dauer des Amoks genau prognostiziert hatte, hatte gemeinsam mit dem Arzt vor dem Fischgeschäft auf ihren Mann gewartet, als man ihn mehr tot als lebendig brachte. Es brach einem das Herz, mit anzusehen, wie sie litt. In zwanzig Ehejahren hatte sie ein halbes Dutzend dieser Attacken erlebt, ohne je den Grund dafür zu erfahren. Die Ausbrüche blieben unvorhersehbar wie Erdbeben. Obradin gab an, sich nicht mehr an den Anlass erinnern zu können, was vom toxikologischen Standpunkt aus nicht weiter verwunderlich ist. Der Arzt stellte bei Obradin diverse Hämatome, Zahnverlust, aber sonst normale Vitalfunktionen fest, die Männer trugen ihn in sein Ehebett, wo er bis auf Weiteres liegen blieb.
    Draußen bellte Poncho. Ein Wagen kam. Henry sah, dass es nicht die Polizei war. Mit blauer Schnur festgezurrt, stand Marthas Fahrrad wie ein Mahnmal auf der Ladefläche des Pickup. Unzählige Male hatte Henry das Fahrrad gesehen, ohne etwas dabei zu empfinden. Was soll man denn auch beim Anblick eines alten, rostigen Fahrrads verspüren? Doch nun war es anders. Der querstehende Lenker mit der alten Lampe deutete direkt auf ihn.

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