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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Wie getrocknetes Blut leuchtete der Rost am Sattelhals, da war die gebrochene Speiche im Rad, die er nie ersetzt hatte.
    Am Steuer saß Elenor Reens, die Bürgermeisterin, und neben ihr die junge Frau vom Strand. Sie trug eine Baseball-Kappe und hatte die Sonnenbrille auf den Schirm geschoben. Elenor stieg aus, nahm Marthas Sachen vom Rücksitz, ordentlich verpackt, in einer Tüte waren die Gummisandalen und Marthas Parka. Sie legte alles auf die Motorhaube.
    Â»Sagen Sie uns einfach, was wir tun können. Egal, was es ist. Wir sind immer für Sie da. Ich spreche für alle, unser ganzer Ort ist in Gedanken bei Ihnen und Ihrer Frau.«
    Â»Danke.«
    Elenor sah Henrys Blick.
    Â»Das ist meine Tochter Sonja.«
    Sonja öffnete zögernd die Tür, stieg aus, ging um den Wagen auf Henry zu und umfasste seine ausgestreckte Hand. Sie trug weiße Turnschuhe und verwaschene Bluejeans, die khakifarbene Jacke war bis zum Hals geschlossen, als sei ihr kalt. Ihre Hand war kühl und schmal, ihre Augen von topasblauem Ernst, die Linie ihrer Lippen wie von einem feinem Pinsel gezogen. Aphrodite scheut keine Mühe, mich zu quälen, dachte Henry. »Wie könnte ich das vergessen. Wir kennen uns bereits«, sagte er. Sonja nickte. Es schien Henry, als wolle sie ihm etwas sagen, was in Anwesenheit der Mutter nicht möglich war.
    Elenor ging zurück zu ihrem Wagen. »Ach, übrigens. Obradin ist wieder mal durchgedreht. Der Jagdaufseher hat ihn mit einem Betäubungsschuss erwischt.«
    * * *
    Jeder Mörder sollte wissen, dass die moderne Kriminologie als Lehre vom Verbrechen eine sehr umfassende ist. Verschwindet eine Person, wird dem nachgegangen und dabei in alle Richtungen ermittelt, bis alle Umstände dieses Verschwindens geklärt sind. Das ist insofern von Bedeutung für den Mörder, als er sich auf eine Untersuchung gefasst machen muss, die lange dauern kann und keinen logischen Widerspruch toleriert.
    Ein Mörder muss wachsam sein. Sein Feind ist das Detail. Das unbedachte Wort, die Kleinigkeit, die er vergaß, der unscheinbare Fehler, der alles zunichtemacht. Er muss die Erinnerung an seine Tat wach halten und jeden Tag in sich erneuern und gleichwohl schweigen. Schweigen aber ist gegen die Natur des Menschen.Ein Geheimnis zu bewahren ist nicht leicht. Ein Leben lang zu schweigen ist eine Qual. So gesehen tritt der Mörder mit dem Tag seiner Tat seine Strafe an.
    Besonders die Gattenmörder unter uns wollen beachten, dass der persönliche Profit am Verschwinden des Ehepartners, sei es eine Lebensversicherung oder der verständliche Wunsch nach Freiheit, eine noch gründlichere Untersuchung nach sich ziehen wird.
    Keinem war das klarer als Henry. In seiner üppig bemessenen Freizeit hatte er sich forensisch weitergebildet und unter anderem in Erfahrung gebracht, dass die Polizei bei ungeklärten Todesfällen die Versicherungen verständigt. Wie jeder weiß, zahlen Versicherungen ungern Geld zurück, das sie vorher eingenommen haben. Ganz gleich, ob es große oder kleine Beträge sind. Wenn sie dennoch regulieren, dann ist das stets als ein Akt der Gnade vor Recht zu verstehen. Bei der Auszahlung von Lebensversicherungen im Todesfall werden Assekuranzen besonders genau und lassen ihre Detektive von der Kette. Vor diesen Spezialisten sei gewarnt, denn sie sind keineswegs neutral, sondern arbeiten auf Erfolgsprovision. Sie wissen, dass die ganze Welt Theater spielt, und dementsprechend suchen sie nicht nach der Wahrheit, sondern stets nach der Unwahrheit. Mord, Simulation und Selbstbeschädigung sind für diese Herrschaften Versicherungsbetrug, da ist nichts zu wollen. Sie negieren damit den Leidensdruck des Existenzkampfes – und die Auszahlung einer Police ist für sie gleichbedeutend mit dem Sieg des Bösen. Grundsätzlich sollte Mord wie ein Unfall aussehen. Das ist schwieriger, als es anfangs scheint, denn auch ein Unfall hat eine Vorgeschichte, nachvollziehbare Ursachen und passiert nicht einfach so. Aber davon später mehr.
    Streng genommen war Marthas Tod kein Mord, sondern ein Unfall gewesen. Dennoch hatte Henry zwei entscheidende Fehler bereits gemacht. Er hatte versäumt, gleich die Polizei zu rufen, und der Verbleib von Bettys Subaru durfte nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden. Was immer die Polizei herausfand, am Ende musste ohne Zweifel feststehen, dass er, Henry, keinen Vorteil von Marthas Verschwinden

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