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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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doch jeder Amateur, dass Mörder häufig zum Ort ihrer Tat zurückkehren, wo sie dann verhaftet werden. Sie tun es, weil sie sentimental sind, weil sie wie jeder Mensch wissbegierig sind, einige tun es aus Eitelkeit und wieder andere aus Reue, sie folgen dem Ruf ihres Gewissens. Letztere kehren zurück, weil sie nicht glauben wollen, dass sie zu solcher Tat wirklich imstande waren. Henry für seinen Teil war nach dem Besuch in der Gerichtsmedizin zu der Überzeugung gelangt, dass die Polizei an einen Unfall glaubte. Es gab also keinen Grund, nicht nachzuprüfen, wo seine Frau lag und wie es ihr in der Zwischenzeit ergangen war. Martha hätte es erwartet, wie Henry fand.
    Von fern schon sah er blinkende Warnschilder. Als er langsam durch die Unglückskurve fuhr, wo dieser arme Trottel einfach geradeaus weiter gegen die Betonpoller gefahren war, kam ihm der Abschleppwagen mit dem Autowrack auf der Ladefläche entgegen. Es sah böse zerquetscht aus, ein Wunder, dass da drin einer überlebt hatte. Jetzt erinnerte sich Henry, dass ihre Blicke sich trafen, unmittelbar bevor der Wagen aufprallte. Statt auf die Straße zu sehen, hatte der Fahrer ihn angeschaut, gleichsam überrascht, als habe er ihn erkannt. Nun, viele Menschen erkennen mich auf der Straße, dachte Henry, und wen schert’s, der Glückspilz hat mit meiner Hilfe die Kollision überlebt.
    Auf dem Forstweg stellte Henry sein Auto an derselben Stelle wie immer ab und ging pfeifend über die gelochten Betonplatten zu den Klippen. Vereinzelt trieben kleine weiße Wölkchen über den Himmel, die warme Luft war erfüllt vom Duft frischer Fichtennadeln. Man müsste öfter spazieren gehen, dachte er, es ist so gesund.
    An den Klippen, genau da, wo der Subaru gestanden hatte, parkte jetzt ein Campingmobil. Wenn man Nummernschildern glauben darf, campierte dort eine englische Familie mit Kindern und produzierte eine beeindruckende Menge Campingmüll, der symmetrisch verteilt lag. Ein Fest für Forensiker. Das ganze Areal war nun beträufelt mit Speichel und Schweiß, ganz zu schweigen von Exkrementen, Haaren und Hautschuppen und weiß der Teufel was noch. Gott segne diese Familie, jubilierte Henry stumm, selbst die weltbesten Forensiker würden tausend Jahre lang zu tun haben.
    Er verbarg sich in einem Gebüsch und beobachtete entzückt die nackte Frau in Holzlatschen, die gerade etwas Wäsche über eine Spannleine zwischen zwei Bäumen warf. Diese spätneolithische Venus musste die Mutter sein. Ihre hell schimmernden Brüste mit den akkuraten Warzenhöfen pendelten schwer, aber formschön herab, ihre Taille war durch die Geburt der drei Kinder, die sich unweit des Campingmobils mit Kienäpfeln bewarfen, merklich verbreitert. Henrys fachmännischem Auge entging die Kaiserschnittnarbe nicht, die sich horizontal über der Scham entlangzog – sehr gut verheilt und überhaupt nicht hässlich.
    In einem Aluminiumstuhl saß Zeitung lesend das nackte Oberhaupt der Familie mit Strohhut und übereinandergeschlagenen Beinen, auf denen sich Krampfadern schlängelten und – was tat er? – er rauchte Zigaretten! Nicht hastig wie Betty, sondern genießerisch mit jedem Zug sein Leben verkürzend. Dieser kultivierte Brite drückte den Stummel achtsam am Aluminiumbein des Stuhls aus, schnippte ihn dann ins Gelände, um sich sofort die nächste anzuzünden. Eine Lastwagenladung Zigaretten wollte Henry ihm schenken. Seine wohlgeratenen, nackten Kinderchen sammelten und warfen unermüdlich Kienäpfel, lachten und schrien dabei – es war eine Freude, ihnen dabei zuzuschauen. Henry hätte am liebsten mitgespielt und mitgeworfen. Wie lang war das jetzt her, dass er selbst so ausgelassen gespielt hatte, wie ausgesprochen selten war das gewesen! Ja, man sollte öfters Sommerurlaub mit Kindern machen, sie haben so viel Spaß dabei.
    Hätten noch irgendwelche Reifenspuren des Subaru existiert, so waren sie alle von den breiten Pneus des Wohnmobils plattgewalzt und überdeckt. Fabelhaft. Henry beschloss, bei Gelegenheit wiederzukommen. Allzu gern wäre er an den Freunden der Freikörperkultur vorbei zu den Klippen geschlendert, nur um mal einen Blick auf Martha zu werfen – aber man soll den Teufel nicht versuchen, selbst wenn er gute Laune hat.
    * * *
    Fette, schwarze Fliegen krabbelten an den Fensterscheiben des Maserati in unterschiedliche

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