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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Richtungen. Die Sonne hatte das Wageninnere aufgeheizt, und als Henry die Wagentür öffnete, entwich ein Fliegenschwarm in einem stinkenden Luftstrom. Der Geruch kam von der Tasche auf der Rückbank, die in einer braun verfärbten Blutlache festgebacken war. Fliegen hatten bereits symmetrische Trauben von weißen Eiern hier abgelegt.
    Angewidert griff er die Tasche am Henkel und zog sie weg. Sie klebte an der Rückbank. Der Henkel war von Handschweiß dunkel verfärbt. Bekümmert musterte er den Blut quark auf dem rotbraunen Nappaleder, bestes Leder von handmassierten Rindern. Ein Fall für die Versicherung. Vergilbte Blätter quollen aus der Tasche. Gerade wollte Henry die Tasche ins Gebüsch werfen, als er auf einem Blatt mit Buntstift umkreiste Wörter bemerkte. Es war sein Schulzeugnis der dritten Klasse. Sein Name war blau eingekreist.
    Ganz unten auf der Seite unleserliche Unterschriften . Diese dritte Klasse waren zwei besonders schlimme Jahre gewesen, er erinnerte sich ungern. Die Zensuren waren alle Mangelhaft bis Ungenügend – mit Ausnahme von Sport. In der Beurteilung hieß es unter anderem: Henry wird nicht versetzt. Er stört den Unterricht, schreibt bei Mitschülern ab, seine Mitarbeit und sein Gehorsam lassen erheblich zu wünschen übrig. Ausrufezeichen. »Schreibt bei Mitschülern ab« war rot eingekreist und mit einem weiteren Ausrufezeichen am Rand versehen.
    Sorgfältig geheftet und nach Datum geordnet, sah Henry eine Kopie seiner Geburtsurkunde, Zeugnisse, Gerichtsunterlagen über seine Eltern, Einweisungsprotokolle in Erziehungsheime, psychologische Gutachten, Zeitungsartikel über Henry Hayden und seine Romane, selbst eine Kopie seiner Heiratsurkunde – alles mit Farbkringeln umrandet. Henry unterdrückte den Impuls, die Tasche auf der Stelle zu verbrennen. Er warf sie auf die Rückbank, ließ alle Fenster herunter und passierte wenige Minuten später in unauffälligem Tempo wieder die Kurve. Ein paar Feuerwehrmänner fegten letzte Splitter von der Straße. Hatte der Kerl ihn also doch verfolgt. Er hätte seinem Instinkt trauen und ihn verrecken lassen sollen.
    Der Glaube an das Gute im Menschen ist ein schwer zu widerlegendes Vorurteil. Ist es, fragte sich Henry, als er wütend durch die Pappelallee zu seinem Anwesen fuhr, nicht vernünftiger, an das evident Schlechte im Menschen zu glauben? In seinem persönlichen Fall beispielsweise war doch das sporadisch Gute, wie die Rettung des Mannes aus dem Autowrack oder das Erwürgen des Rehs auf dem Feld, nichts als eine kurze Unterbrechung des Schlechten. Er war ein Mörder, ein Lügner und Hochstapler. Nicht danach gefragt werden, wer man wirklich ist, das ist die hohe Kunst der Verstellung. Millionen Leser verschlangen seine Bücher, viele Frauen begehrten ihn, und Martha, die doch besser als alle anderen wusste, dass er nichts taugte, hatte nie aufgehört, ihn zu lieben. Kann man ein Scheusal lieben, fragte Henry sich gelegentlich, darf man? Man muss sogar, sofern man an das Gute im Menschen glaubt. Unausweichlich, so schloss Henry seinen Gedankengang ab, führt der Glaube an das Gute im Menschen zur Strafe. Denn allein der Glaube daran macht die Strafe notwendig.
    Heute früh war er in der Gewissheit zur Gerichtsmedizin gefahren, für den Mord an seiner Frau den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verbringen. Auf dem Weg dorthin, ganz en passant, rettete er einen wildfremden Menschen, half, ganz ohne die Nachteile zu bedenken. Beinahe wäre er zu seiner eigenen Verhaftung zu spät gekommen. Und machte das etwa den Mord an seiner Frau wett und die zu erwartende Strafe geringer? Nein, ganz entschieden nein. Keine gute Tat wiegt eine schlechte auf – aber deshalb tut man’s ja nicht. Oder?
    Wenige Stunden war er fort gewesen, dennoch kam es Henry vor, als sei er von einer langen Reise zurückgekehrt. Etwas war anders. Poncho lief ihm nicht wie üblich bellend entgegen. Dann sah er Sonja Reens, die Tochter der Bürgermeisterin, auf dem alten Mühlstein im Garten stehen, der Hund zu ihren Füßen, in gespannter Haltung zu ihr aufblickend. Sie schien den Hund hypnotisiert zu haben, denn selbst als Henry ihn rief, wandte er nicht den Kopf, sondern fixierte die Frau. Sie trug Bluejeans, Flipflops und ein weißes T-Shirt, das eng am Körper saß. Die braune Haut ihrer Oberarme glänzte, das T-Shirt gab eine schmale

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