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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Hautpartie ihrer Taille frei. Sie hob eine Hand, der Hund legte sich auf den Bauch, sie senkte sie und drehte dabei die Handfläche nach außen, der Hund setzte sich wie von Schnüren gezogen wieder auf.
    Henry ließ die Zentralverriegelung des Wagens auf und zu schnappen. Üblicherweise rannte Poncho bei diesem Geräusch zum Wagen, weil es seinen Mitfahrreflex aktivierte, doch er hob nicht mal ein Ohr. In Jahren hatte er seinem Hund nichts anderes beibringen können, als genau das zu tun, wonach ihm gerade war.
    Sie klatschte in die Hände, Poncho erwachte aus seiner Katatonie und kaute schwanzwedelnd den Belohnungskeks, den sie ihm gab. Henry hob tadelnd den Zeigefinger. »Poncho, wir hatten abgemacht, dass du das nur bei mir machst.« Er schaute sie bewundernd an. »Wie haben Sie ihn dazu gebracht?«
    Ihre Miene verriet fachmännischen Stolz. »Es ist so einfach. Hunde lernen so gern. Sie sind dankbar, wenn man sie fordert. Poncho ist ein schöner Name. Er passt zu ihm. Er ist ein kluger Hund.«
    Â»Das freut mich. Bis eben hätte ich geschworen, er sei dumm.«
    Henry bemerkte einen geflochtenen Korb neben dem Mühlstein. Ein kariertes Deckchen lag darüber. Sie sah seinen Blick.
    Â»Ich hab gedacht, dass Sie vielleicht etwas Gesellschaft brauchen können, Herr Hayden. Meine Mutter Elenor hat Rhabarberkuchen für Sie gebacken.«
    Â»Für mich?«
    Henry bevorzugte Waterboarding. Rhabarber gehörte für ihn zu den bitteren Gemüsearten, die man zu einem abscheulich schmeckenden Gallert verarbeitet, um damit wehrlose Kinder in Speisesälen zu foltern. Während seiner Odyssee durch diverse Heime und Disziplinierungsanstalten hatte er die immer gleiche Erfahrung gemacht: für jedes Vergehen gibt es die passende Strafe und zur Belohnung Rhabarberkompott. Aber dies war nicht der Moment für Ressentiments.
    Sonja sprang vom Mühlstein, etwas Schwebendes war dabei an ihr, sie bückte sich nach dem Korb, hob ihn an und schwang ihn hin und her. Betört sah Henry seinen Schatten zu dem ihren laufen.
    Â»Oder meinen Sie im Ernst besser immer allein als nie?« , fragte sie lächelnd. Henry fiel sofort der Schnipsel ein, den Jenssen ihm vor der Gerichtsmedizin gezeigt hatte. Es gibt Tage, da kommt alles zu mir zurück, dachte er.
    Â»Nein, das ist nicht von mir. Meine Frau hat das geschrieben.«
    Ihr Lachen war hell und frei von Pietät. Sie glaubte ihm nicht, wie auch, er sagte ja die Wahrheit. Henry bemerkte, dass ihre Schatten sich bereits umschlangen.
    Â»Sie müssen entschuldigen, Herr Hayden …«
    Â»Henry.«
    Sie errötete leicht. »Henry. Dass mit der Seite tut mir leid, aber ich wollte dir doch eine Nachricht schreiben und hatte nur deinen Roman dabei, sonst nichts. Das Buch gehört übrigens meiner Mutter. Sie ist ein großer Fan von dir.«
    Gesegnet sei, wer eine Mutter hat, dachte er. Sonja fiel nun eher unbewusst ins »Sie« zurück. »Haben Sie Creme fraîche?«
    Â»Ja, warum?«
    Â»Alles schmeckt besser mit Creme fraîche.«
    Â»Das stelle ich mir gerade vor«, antwortete Henry, und der Himmel sei sein Zeuge, er meinte es.
    Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war eine Komplikation. Der Roman war nicht fertig, die Frage, wer den zu Ende schreiben sollte, war nicht mal ansatzweise geklärt. Dem Kind in Bettys Bauch wuchsen bereits kleine Fingerchen, im Dach wohnte ein Gewissensdämon in Gestalt eines Marders, und ein unbekannter Schnüffler sammelte heimlich die Spuren seiner Vergangenheit, um zu seinem größten Geheimnis vorzudringen. Es würde nicht leicht werden, Lösungen für all diese Probleme zu finden und wieder Ordnung zu schaffen, jetzt war keine Zeit für leidenschaftliche Experimente. Es gibt Phasen im Leben, da soll man nach Prinzipien handeln, nicht nach Impulsen.
    Aber Sonja war magnetisch. Alles an der jungen Frau zog ihn an. Während er Tee kochte, trafen sich ihre Blicke im Spiegelbild des offenen Küchenfensters. Etwas später saßen sie in seinem Atelier, sie sprach über ihr Studium der Veterinärmedizin und wie gern sie eine Praxis auf dem Land eröffnen würde, er sog dabei still an seiner kalten Pfeife und wünschte sich, es wäre ihre Klitoris. Nichts wäre leichter gewesen, als ihr eine Praxis einzurichten, seine wollüstigen Gedanken stiegen zu Höhen auf, wo keine Worte mehr wachsen. Jedes Mal, wenn sie

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