Die Wahrheit
unterhalten?«
»Eigentlich habe ich gerade Pause. Ich habe nur mal reingeschaut, um Ihnen das mit Ihrem Bruder zu sagen. Ich muß jetzt gehen.« Sie klang ein wenig unfreundlich.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Selbst wenn nicht alles in Ordnung wäre, könnten Sie nichts daran ändern.« Ihre Stimme wirkte nun nervös und rauh.
Rufus betrachtete sie einen Augenblick lang. »Gibt es hier irgendwo eine Bibel?«
Erstaunt wandte sie sich wieder um. »Warum?«
»Ich lese jeden Tag in der Bibel. Schon so lange, wie ich denken kann.«
Sie schaute zum Tisch neben dem Bett, ging hinüber und nahm eine Bibel hervor. »Ich kann sie Ihnen nicht geben. Ich darf Ihnen nicht so nahe kommen. Die Leute aus dem Gefängnis haben sich in dieser Hinsicht sehr, sehr klar ausgedrückt.«
»Sie müssen mir die Bibel auch nicht geben. Wenn Sie möchten, könnten Sie mir etwas vorlesen.«
»Ihnen vorlesen?«
»Sie müssen es nicht«, sagte er schnell. »Vielleicht interessieren Sie sich ja gar nicht dafür. Sie wissen schon, für die Bibel und die Kirche.«
Sie schaute zu ihm hinunter, die eine Hand auf die Hüfte gelegt, die andere um die grüne Bibel geschlossen. »Ich singe im Kirchenchor. Mein Mann - Gott sei seiner Seele gnädig - war Laienprediger.«
»Das ist wirklich schön, Cassandra. Und Ihre Kinder?«
»Woher wissen Sie, daß ich Kinder habe? Weil ich nicht mager bin?«
Er schüttelte den Kopf.
»Woher dann?«
»Sie sehen aus, als würden Sie kleine Kinder lieben.«
Seine Worte erstaunten sie, und sofort brach ein Lächeln durch die Wolken über ihrem Gesicht. »Ich muß wirklich vor Ihnen auf der Hut sein.« Sie bemerkte, daß er die Bibel betrachtete, als sei er durstig und brauche etwas zu trinken - und sie hielte das frischeste, kühlste Glas Wasser in der Hand, das es auf dem Antlitz der Erde je gegeben hatte.
»Was soll ich Ihnen vorlesen?«
»Psalm einhundertdrei.«
Cassandra überlegte kurz, zog dann einen Stuhl heran und setzte sich.
Rufus legte sich aufs Bett zurück. »Danke, Cassandra.«
Während sie las, schaute sie in seine Richtung. Die Augen hatte sie geschlossen. Sie las noch ein paar Worte, schaute dann auf, stellte fest, daß seine Lippen sich bewegten, und hielt inne. Sie las den nächsten Satz, prägte ihn sich schnell ein und las ihn vor, während sie ihn beobachtete. Rufus bildete mit den Lippen stumm jedes Wort, während sie es gerade sprach. Cassandra hielt inne, doch Rufus flüsterte bis zum Ende des Satzes weiter. Als sie nicht fortfuhr, schlug er die Augen auf. »Sie kennen den Psalm auswendig?« fragte sie.
»Ich kenne den Großteil der Bibel auswendig. Alle Psalmen und Sprüche.«
»Das ist ziemlich beeindruckend.«
»Ich hatte viel Zeit, daran zu arbeiten.«
»Weshalb wollten Sie, daß ich Ihnen den Psalm vorlese, wenn Sie ihn schon kennen?«
»Sie sehen so aus, als hätten Sie ein bißchen Kummer. Ich dachte, es könnte Ihnen helfen, die Heilige Schrift zu zitieren.«
»Mir helfen?« Cassandra blickte wieder auf die Seite und las laut vor: »>... der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit.<« Die Arbeit war deprimierend. Ihre Kinder, Teenager, gerieten jeden Tag mehr außer Kontrolle. Sie hatte die Vierzig überschritten, zwanzig Kilo Übergewicht, und es war kein geeigneter Mann in Sicht. Und während sie nun diesen Gefangenen sah, diesen angeketteten Mörder, der im Gefängnis sterben würde, wäre sie angesichts seiner Freundlichkeit, seiner unverlangten Rücksichtnahme auf ihre Notlage am liebsten in Tränen ausgebrochen.
Psalm einhundertdrei hatte einen ganz besonderen Reiz für Rufus, vor allem eine Zeile. Er sprach sie leise vor sich hin: »>Der Herr schafft Gerechtigkeit und Gericht allen, die Unrecht leiden.<«
»Ist er das?« fragte Chandler, als sie sich dem silbernen Honda näherten, einem 87er-Modell, der auf dem Polizeiparkplatz abgestellt war.
Fiske nickte. »Wir haben ihn Mike zum Collegeabschluß geschenkt. Wir haben alle zusammengeworfen, meine Eltern und ich.«
»Ich habe fünf Brüder. So was haben sie nie für mich getan.«
Chandler schloß die Fahrertür auf und trat zurück, damit Fiske ins Innere des Wagens schauen konnte.
»Wo haben Sie die Wagenschlüssel gefunden?«
»Auf dem Vordersitz.«
»Und haben Sie noch andere persönliche Gegenstände entdeckt?«
Der Detective schüttelte den Kopf.
Fiske inspizierte den Fahrersitz, das
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