Die Wall Street ist auch nur eine Straße

Kürzlich war ich auf dem Konsulat zur Reisepassverlängerung und bemerkte, dass die Gebühr für die Aufgabe der Staatsbürgerschaft heute bei 450 Dollar liegt. Bis Juli 2010 war das kostenlos. Und offensichtlich gab es eine Zeit, als man einfach ins Konsulat gehen und die Staatsbürgerschaft aufgeben konnte, ohne einen Termin vereinbart zu haben. Heute braucht man natürlich einen. Während des Verfahrensablaufs, dem Sie sich unterziehen müssen, hat ein Beamter des Konsulats die Möglichkeit, Ihnen die Sache auszureden, Sie wegzuschicken, Ihnen zu sagen, dass Sie zurückkommen sollen, Verzögerungstaktiken anzuwenden und alles zu tun, um Sie von Ihrem Vorhaben abzubringen. Teilweise ist das zu Ihrem Schutz – um sicherzustellen, dass Sie freiwillig und absichtlich die Staatsbürgerschaft ablegen – und teilweise auch, weil die Aufgabe der Staatsbürgerschaft heute zu einer Art Massenbewegung geworden ist.
    Dass Amerikaner keine ausländischen Konten mehr führen können, ist nur einer von mehreren Gründen dieses Trends. Die Regulierungen der Banken infolge des Patriot Act machen es für Amerikaner, die im Ausland leben, zunehmend schwieriger, Konten bei amerikanischen Banken zu führen. Nach Aussage von American Citizens Abroad, einer Lobbygruppe mit Sitz in Genf, schließen US-Banken, abgeschreckt durch die Antiterror-Vorschriften des Gesetzes, die Konten langjähriger Kunden mit Adressen außerhalb der USA als »wohl überlegte Selbstverteidigung«. Das Ergebnis: Auslandsamerikaner sind zu »toxischen Staatsbürgern« geworden.
    Die USA sind eines der wenigen Länder der Welt, in denen nicht der Wohnsitz, sondern die Staatsbürgerschaft über die Steuerpflicht entscheidet. Auslandsamerikaner werden doppelt besteuert. Sie zahlen US-Steuern zusätzlich zu den Steuern, die sie in den Ländern zahlen, in denen sie leben. Wenn man seine US-Staatsbürgerschaft ablegt und ein Nettovermögen von mehr als 2 Millionen Dollar besitzt, wird angenommen, dass man diese Entscheidung aus steuerlichen Gründen trifft. Vielleicht wollen Sie tatsächlich ein buddhistischer Mönch werden und völlig mittellos in den Bergen Tibets leben. Wenn Ihr Nettovermögen aber 2 Millionen Dollar übersteigt (oder wenn die Netto-Steuerschulden der letzten fünf Jahre einen bestimmten Betrag überschreiten), behauptet die Regierung, dass Sie auf dem Weg nach Shangri-La sind – und zwar nicht, um zu meditieren, sondern um Steuern zu sparen. Und daher müssen Sie eine Ausbürgerungssteuer zahlen; eine Ausstiegssteuer, je nach der Höhe Ihres Vermögens. The Economist hat dies die Berliner Mauer Amerikas genannt. Neben der früheren DDR, Nordkorea, Kuba, dem Iran, der früheren UdSSR und dem Deutschland der 1930er-Jahre stehen jetzt auch die USA auf der Liste der Länder, die Gesetze erlassen haben, um ihre Bürger am Abschied zu hindern und in manchen Fällen auch die Rückkehr derjenigen Bürger zu verhindern, die den Abschied geschafft haben.
    BISLANG sieht FATCA eine Schwelle von 50 000 Dollar vor. Wenn das Konto eines amerikanischen Bürgers einen geringeren Betrag aufweist, müssen ihn ausländische Banken nicht melden. Normale Giro- oder Sparkonten in den meisten Ländern sind bislang nicht betroffen. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass ich schon sehr bald kein Konto bei einer örtlichen Bank mehr führen kann, um meine Stromrechnung zu bezahlen. Außer natürlich … Ja, Citibank hat eine Filiale in Singapur. Ich habe dort kein Konto, aber wenn mich keine andere Bank mehr als Kunden akzeptiert, werden ich und alle anderen Amerikaner in Singapur keine andere Wahl haben, als unsere Konten dorthin zu transferieren – oder zu einer der anderen amerikanischen Banken (Chase und Bank of America), die dort ebenfalls Niederlassungen betreiben.
    Wenn die Mitglieder des Kongresses das im Sinn hatten, kann man das neue Gesetz als protektionistische Maßnahme sehen – was es nach der Ansicht etlicher europäischer Bankiers auch ist. Man kann es als Einschränkung des Handels interpretieren. Und für ausländische Bankiers wäre die Annahme nicht naiv, dass Citibank wahrscheinlich bei der Formulierung des Gesetzes mitgeholfen hat. Citibank hat ein großes Filialnetz im Ausland, und der Kongress neigt dazu, seine Freunde zu schützen.
    2005 hinderte das US-Repräsentantenhaus die Chinese National Offshore Oil Corporation (CNOOC) daran, Union Oil of California (Unocal) zu kaufen. Unocal ist heute eine hundertprozentige Tochter von Chevron, dem