Die Wand der Zeit
erinnere.
Die Landschaft ist ganz anders als auf meiner Insel. Dort gibt es nur Wasser, Riedgras, Schlamm, Torf. Hier gibt es Sonne, roten Fels und knorrige Bäume, die meisten kaum größer als ich. Das Wasser in der Bucht ist tiefblau. Noch Meter unter mir kann ich den Meeresgrund sehen. Schwärme von Fischen, und Pflanzen wachsen auf dem weißen Sand.
Die Bucht ist geschützt. Die Gezeitenunterschiede sind gering, und ich glaube, das Floß liegt hier sicher. Ich frage mich, ob ich es noch mal brauche, unter welchen Umständen ich hierher zurückkommen müsste. Da ich gern auf alles vorbereitet bin, bleibt es zur Sicherheit hier. Den Gedanken an eine Rückkehr schiebe ich von mir.
Das ist nicht der Strand, von dem ich vor zehn Jahren losgesegelt bin. Der liegt eine halbe Tagesreise entfernt. Sobald ich die Küste wiedererkannte, habe ich die Bucht hier angesteuert, weil sie weiter weg von der Siedlung ist. Ich kann das Floß zwar vor den Elementen schützen, aber nicht vor den Menschen. Zu der Zeit, als ich Marschall war, lebte hier niemand, doch das ist zehn Jahre her. Stellt sich heraus, dass die Gegend bewohnt ist, fahre ich weiter und ankere noch weiter oben an der Küste. Ich möchte nicht, dass die Siedlung vonmeiner Ankunft erfährt, bevor ich da bin. Sie sollen nicht dazu kommen, sich eine Reaktion zu überlegen, ehe ich meine Sache vorgetragen habe. Wenigstens vorläufig muss ich mich vor neugierigen Blicken, neugierigen Menschen verbergen. Mit Andalus ist das schwierig. Es ist schwierig, eine fette weiße Made in der Wüste zu verstecken.
Ich gehe an Land. Dabei trifft mich etwas wie ein Schlag. Ich spüre trockenes Gestein unter den Füßen. Ich atme ein und schmecke Staub, Hitze, eine trockene Hitze. Es ist nur ein Geruch, nur ein Gefühl, aber mir kribbelt die Haut. Diese Luft, die ich atme, ist Heimat. Beim Festmachen des Floßes habe ich ein Lächeln im Gesicht.
Als das Floß vertäut ist, verliere ich keine Zeit. Ich finde einen Hohlraum zwischen den Felsen und führe Andalus dorthin. Ich sage ihm, er soll im Schatten warten. Ich sage ihm, dass ich für einige Zeit weg bin, weil ich mich nach Menschen umschaue. Er soll nicht fortgehen, sich nicht zeigen, im Unterschlupf bleiben. Ich muss sein Kinn anheben, damit er mich ansieht. Ich weiß nicht, ob er mich verstanden hat, aber ich lasse ihm etwas zu essen da und gehe.
Ich klettere das Steilufer hinauf. Es geht schwer. Ich bin die Hitze und die Sonne nicht gewohnt und habe drei Wochen im Liegen und Sitzen auf einem Floß verbracht, mit wenig Nahrung. Mein Herz pocht. Meine Kehle fühlt sich rau an wie seit Jahren nicht. Es ist, als ob ich austrockne. Nachdem ich jahrelang in der Torfbrühe der Insel eingeweicht worden bin, wird mir jetzt das ganze Wasser entzogen. Ich bin ein in der Sonne vergessener Schwamm. Heimat hin, Heimat her, immer noch ein Fisch auf dem Trockenen.
Oben angekommen, ruhe ich mich erst mal aus. Meilen ringsum ist nichts, kein Anzeichen menschlicher Besiedlung,kein Rauch, keine bestellten Felder. Trockenes Buschland nur: einzelne Bäume, dürres Gras, Gestrüpp. In der Ferne, blau am Horizont, zeichnen sich Berge ab. Nach links und rechts erstreckt sich das Steilufer, so weit das Auge reicht. Ich hatte zwar keine Menschen zu sehen erwartet, bin aber dennoch erleichtert. Ich kann wieder atmen.
Ich sehe einen Adler. Er stößt auf die Ebene herab und steigt, wie es scheint, mit einem Kaninchen oder einer Ratte in den Fängen wieder auf. Plötzlich läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Seit meiner letzten Mahlzeit im Gefängnis habe ich kein Fleisch mehr gegessen. Der Fang des Adlers zeigt, dass es Fleisch gibt. Das ist ungewöhnlich. In einigen dünn besiedelten Gebieten haben einzelne Wildtiere die Hungersnot und unsere unerbittliche Suche nach etwas, womit wir unsere Mägen füllen könnten, überlebt, aber viele waren es nicht. Und unbefugtes Jagen war verboten. Wer gegen die Bestimmungen verstieß, wurde bestraft. Allen erwachsenen Mitgliedern seiner Familie wurden zwei Wochen lang die Rationen verwehrt. Für manche älteren Menschen war das ein Todesurteil.
Wir kamen mit dieser Lebensweise zurecht, und für die Siedlung gilt das wahrscheinlich immer noch. Wenn die Umwelt das Leben bedroht, hat es wenig Sinn, sich ihr entgegenzustellen, auszuprobieren, wie weit man gehen kann. Besser, man zügelt das Leben, als dass man sich mit Urgewalten anlegt. Das war der Gedanke hinter dem Großen Plan, dem Regelwerk, über das
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