Die Wand der Zeit
liegt quer überm Bug. Ich schwimme hin, halte mich am Floß fest und lege den Kopf auf die nassen Planken. Ich würge Meerwasser heraus, dann schließe ich die Augen.
Ich höre ihn kommen. Er streckt mir die Hand entgegen. Ich blicke zu ihm hoch, aber der Himmel ist zu hell, als dass ich klar sehen könnte. Ich will mich an seinem Arm hochziehen, rutsche aber ab. Es ist, als wäre er nicht da. Ich winke ihn weg.
Die Flut trägt uns zurück. Als wir den Strand erreichen, lasse ich mich erschöpft in den Sand fallen. Andalus legt sich ebenfalls hin, die Arme über den Kopf gestreckt. Das Floß dümpelt im Flachwasser. Ich rühre mich stundenlang nicht. Dann vertäue ich das Floß an den Felsen, nehme mir etwas von dem Proviant und mache mich auf den Weg zur Höhle.
Als ich dort bin, fällt mir Andalus ein. Ich glaube zwar nicht, dass er das Floß flottbekommt, aber es wäre ein Unglück, wenn er allein damit losfahren würde. Ich gehe noch mal zurück und tippe ihm auf die Schulter. Er steht auf, ohne mich anzusehen.
Ich weiß, dass der gebrochene Mast nur einen Rückschlagbedeutet, der meinem Übereifer geschuldet ist. Es bedeutet nicht, dass es nicht geht und ich zum Scheitern verurteilt bin, aber das wird mir erst nach einiger Zeit klar. Zwei Tage lang liege ich in der Höhle und kehre nur zum Floß zurück, um Proviant zu holen. Ich mache noch zwei Striche an die Wand. Ganz langsam mache ich die.
Am dritten Tag komme ich zur Besinnung. Ich repariere den Mast. Der glatte Bruch macht wenig Mühe. Zum Schluss habe ich einen kürzeren, leichteren Mast, und das ist überhaupt kein Nachteil. Am vierten Tag sammle ich Knollen und Grassamen, denn am fünften will ich wieder los.
Andalus lasse ich die ganze Zeit in der Höhle. Er scheint die Ruhe selbst zu sein und schläft meistens. Als ich am Abend des vierten Tages meinen Fang prüfe, komme ich zu dem Ergebnis, dass ich den verbrauchten Proviant zwar nicht mehr ganz ersetzen kann, dass er aber immer noch für eine Fahrt von neunzehn oder zwanzig Tagen reicht. Ich kann also fünf Tage nach der ersten Ausfahrt zum zweiten Mal aufbrechen. Wieder bin ich aufgeregt.
Am Morgen des fünften Tages ist alles ruhig. Der Regen macht eine Pause. Es ist warm. Als ich, Andalus dicht hinter mir, an den Strand komme, fällt mir ein, dass ich die veränderten Tidenzeiten nicht berücksichtigt habe. Wir sind fast vier Stunden zu früh. Ich könnte versuchen, das Floß hinunter ins Wasser zu ziehen, aber der Sand ist weich, das dauert lange und kostet Kraft, die ich vielleicht später brauche. Ich werde warten müssen. Ich setze mich auf einen Stein, aber ich bin unruhig. Ich muss daran denken, wie ich mich vor einem Gefecht immer gefühlt habe: Enge in der Brust, rascher Herzschlag, leicht ablenkbar.Man lernt das unter Kontrolle zu bringen. Das muss man, sonst wird man nicht alt. Unmittelbar vor einem Kampf darf man nicht unkonzentriert sein. Ich habe nachgelassen. Der Inselalltag hat meinen Körper gestählt, aber meinen Kampfinstinkt einschlafen lassen. Der könnte mir allerdings auch schon vorher abhandengekommen sein. Ich erinnere mich an den Tag, als der Prozess begann. Tora war bei mir. Ich konnte nicht stillsitzen, lief im Zimmer hin und her und überlegte, was ich sagen sollte, statt ihr zuzuhören. Einmal stand sie auf und kam auf mich zu. Ich hob gereizt die Hand, um sie zurückzuhalten. Sie blieb stehen. Ein wenig verblüfft vielleicht. Es tat mir leid. Aber ich war auch wütend. Wütend auf mein Volk. Wütend auf sie, die sich bemühte, mir beizustehen, obwohl sie nicht mehr mit mir zusammen war. Ich trat hinter sie und küsste sie auf den Kopf. Ihre Schultern zuckten ein wenig. Ich nahm sie nicht in den Arm. Es war mein Tag, nicht ihrer. Ich stehe auf und gehe in raschem Tempo, fast im Laufschritt, den Strand entlang. Ich spüre, dass Andalus hinter mir herschaut, drehe mich aber nicht um. Solange Ebbe ist, kann er nichts machen.
Ich entschließe mich, in der Hälfte der verbleibenden Zeit so weit wie möglich um die Insel herumzugehen und dann umzukehren. So kann ich der Insel Lebewohl sagen. Seit der Ankunft meines Gefährten habe ich keine Zeit mehr für meine Expeditionen, meine Erkundungsgänge gehabt. Ich musste mehr Zeit für notwendige Arbeiten aufwenden und deshalb die Erforschung der Insel und des Lebens auf ihr vernachlässigen. So ist das mit den Menschen, den Übriggebliebenen: Sie sind zu sehr mit Überleben beschäftigt, um unser Wissen wieder
Weitere Kostenlose Bücher