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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Bruce
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aufzubauen. Außer mir. Ich war niemals so beschäftigt, dass ich nicht versucht hätte, unsere Geschichte wieder zusammenzusetzen, das, was wir einmal waren, der Vergessenheit zu entreißen. Esärgert mich, dass Andalus mich davon abgebracht hat, und doch diente das wohl einem höheren Zweck, meiner Rückkehr nämlich – einer Rückkehr, die unser Wissen voranbringen und helfen wird, die Wunden der Vergangenheit zu heilen.
    Aber zuerst mache ich einen Umweg. Wie mein Schwimmen, wie meine Forschung hatte ich auch die Besuche des Steinfelds aufgegeben. Da gehe ich jetzt hin.
    Ich war zwar nicht mehr dort, habe aber nicht aufgehört, darüber nachzudenken, mich nach seinem Sinn zu fragen, dem Sinn, den es für mich hat. Die Steine glänzen. Viele sind halb im Schlamm versunken. Ich bücke mich nach einem und wische mit der Hand darüber. Er ist glatt. Ich hebe ihn auf. Wo er lag, bohrt sich ein Wurm ins Erdreich.
    Gedenkstätten werden zu Ehren der Toten errichtet, zur Erinnerung an sie. Ich versuche mir die Gesichter vorzustellen, und gleichzeitig versuche ich sie zu verdrängen. So kann man nicht leben. Wie die Leiber, so liegen auch die Erinnerungen in flachen Gräbern. Ich laufe darüber weg. Meine Füße scharren die Erde von ihren Gesichtern.
    Ich wische den Stein sauber. Ich nehme ihn mit aufs Floß. Er wird mit mir zurückkehren. Eine Geste, ich weiß. Nur eine Geste.
    Was ich auf meinem Rundgang sehe, stimmt mich traurig. Das hat zwei Gründe. Nachdem ich so lange nicht mehr in diesem Teil der Insel war, fallen mir die Veränderungen stärker auf. Als ich noch einmal die Woche herumging, konnte ich höchstens ein zentimeterweises Vordringen des Wassers feststellen. Nur wenn ich mir in Erinnerung rief, wo es Wochen zuvor gestanden hatte, bemerkte ich überhaupt einen Unterschied. Von einer Woche zur anderen war wenig zu sehen. Jetzt aber springt die Veränderung ins Auge. Ein großer Teil der Steilküste istweggebrochen, und das Wasser ist in weitere Teile des Graslands eingedrungen. Nach der langen Pause hat es den Anschein, dass die Veränderung viel schneller voranschreitet. Aber ohne Berechnungen anzustellen, weiß ich nicht, welche von drei Möglichkeiten hier zutrifft: ob es nur ein Eindruck, eine Täuschung ist, die sich der zwischen den Beobachtungen verstrichenen Zeit verdankt, ob sich das Tempo wirklich beschleunigt hat oder ob ich mich von Anfang an getäuscht habe und die Insel seit jeher schneller verschwindet, als es mir vorkam. Obwohl die zweite und dritte Möglichkeit beunruhigend sind, beschließe ich, mir darüber keine Sorgen zu machen. Schließlich lasse ich die Insel ja hinter mir. Die Ungewissheit behagt mir dennoch nicht. Ungewissheit und offene Fragen sind nicht mein Fall.
    Der andere Grund, weshalb ich traurig bin, ist eher sentimental. So unwirtlich die Insel auch sein mag, sie war mein Zuhause und hat mich ernährt, mich an ihren nassen Busen gedrückt wie eine in den Fluten treibende Mutter ihr Kind.
    Von Weitem sehe ich die Felsblöcke am Strand. Sie erinnern mich an den Kadaver eines Meerestiers, den ich vor vielen Jahren einmal gesehen habe. Es sind fünfzehn. Ich blicke mich um und sehe noch mehr, die aber noch in den Uferwänden eingebettet sind. Es ist, als ob die Insel anfängt, ihre Schätze preiszugeben. Ein wahrhaft karger Schatz.
    Sie sehen auch wie am Strand liegende Menschen aus.
    Ich streiche mit den Fingern über einen, der heller ist als die anderen. Er ist ein wenig warm, wärmer als erwartet. Fühlt sich wie Haut an.
    Irgendetwas stimmt nicht an diesem Tableau, den Leibern am Strand. Was, kann ich nicht genau sagen. Ich lasse es offen.Als ich zurückkomme, schwappt die Tide gegen das Floß, und es ist Zeit, aufzubrechen. Ich helfe Andalus an Bord, stoße das Floß noch ein Stück hinaus, besteige es selbst, hisse das Segel, und wir sind wieder unterwegs. Diesmal weht kein starker Wind, und das Segel bläht sich kaum. Es gibt keine Überraschungen. Wir treiben von der Insel fort wie zwei Ausflügler, zwei Freunde, die ein Abenteuer für einen Tag suchen. Einmal blicke ich zurück. Ich sehe den Strand, die Steilküste im Norden, meine Höhle. Die Insel ist schon grau, dunkler als der Himmel. Von hier draußen ist sie eine große, graue Leinwand, in deren Mitte das vergangene Jahrzehnt meines Lebens immer kleiner wird und versinkt wie ein Stein, den man in einen Teich wirft.
    Tagelang treiben wir so dahin. Wir essen, schlafen, angeln, trinken. Manchmal rudere ich. Es

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